Hugo von Sankt Viktor - Institut
für Quellenkunde des Mittelalters

Christlich-muslimischer Dialog in Spanien, 12.-15. Jahrhundert

Gibt es eine Gesellschaft ohne Religion?
Was wir aus der Geschichte des christlich-muslimischen Dialogs lernen können.

Bevor ich die Gedanken meines Vortrags zu entwickeln beginne, möchte ich Sie, liebe Angehörige des Kreises der Breubergfreunde mit der Frage konfrontieren, welche Erinnerungen, Gedanken und Emotionen in Ihnen aufkommen, wenn Sie einerseits die Schlagworte ‚Mohammed’, ‚Djhad’, ‚Der Fall Konstantinopels 1453’, ‚Die Türken vor Wien’, ‚Ayatola Khomenei’, ‚Sarajevo’, ‚Osama bin-Laden’, ‚11. September’, oder ‚11. März’ hören … . Und was erinnern, denken und fühlen Sie, wenn ich Ihnen andererseits die Stichworte ‚Jesus Christus’, ‚Kreuzzüge’, ‚Heiliger Krieg’, ‚Reconquista’, ‚Granada 1492’, ‚Afghanistan’ oder ‚Irak-Krieg der USA’ vorgebe? Sehen Sie lediglich zwei sich kontrastierende Ketten herausragender Gestalten und Ereignisse der christlich-muslimischen Begegnungsgeschichte oder nicht auch einen fundamentalen Widerspruch zwischen dem jeweiligen Ausgangs- und Endpunkt dieser Ketten?

    In dem folgenden Vortrag wird es mir vornehmlich um eine Skizze einiger grundlegender Gedanken 1. zum religiösen Zustand unserer Gesellschaft und 2. zum Verhältnis zwischen Christen und Muslimen in Geschichte und Gegenwart gehen. Meine Sätze sollen die Grundlage unserer gemeinsamen Diskussion, unseres Austausches von Gedanken, Anregungen, aber auch Befürchtungen sein. Und sie wollen ein Plädoyer für den verstärkten interreligiösen Dialog zwischen Christen und Muslimen sein, den ich für eine, vielleicht sogar die große Chance zur Wiederentdeckung und Neubelebung unserer eigenen religiösen Wurzeln halte.

    Mein Vortrag besteht aus drei Abschnitten, die sich zunehmend auf den eigentlichen Gegenstand meines Themas – den interreligiösen Dialog in Europa – fokussieren. Zunächst gebe ich eine kurze Zustandsbeschreibung der christlich-muslimischen Begegnung in der europäischen Geschichte und Gegenwart (1.). Dann folgt ein Abschnitt, in dem ich erläutern möchte, warum insbesondere eine historische Perspektive auf diese Begegnung für den interreligiösen Dialog der Gegenwart von erstrangiger Bedeutung ist und zunehmend sein wird. Hier werde ich insbesondere auf die Frage in meinem Vortragstitel eingehen (2.). Schließlich versuche ich die Aussagefähigkeit dieser Perspektive an einigen Aspekten des Fallbeispiels ‚Spanien zwischen Gestern und Heute’ aufzuzeigen (3.).

Zu 1.: Säkularisierung oder Respiritualisierung der sog. westlichen Welt?

Wir leben in einem Zeitalter von durch die Politik vereinnahmter oder in diese hineinwirkender Religionen. Die auch als Bedrohung des religiösen wie kulturellen Selbstverständnisses empfundene Globalisierung der Gegenwart ruft beinahe vergessene Regionalisierungsbestrebungen auf den Plan. Sie sorgt auch für ein Wiedererstarken des eigenen kulturellen, gesellschaftlichen, ethnischen und religiösen Bewußtseins. Die Wiederkehr der ganz persönlichen, aber auch gemeinschaftlichen Religiosität ist eine Reaktion auf die Wahrnehmung der Welt als eines globalen Dorfes. Dieser zunehmend anerkannte politische, gesellschaftliche und religiöse Befund rückt die Frage nach der Friedensfähigkeit und Konfliktträchtigkeit von den in unserer Nachbarschaft lebenden Weltreligionen in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen wie kirchlichen Interesses. Wir haben es hier nicht nur mit einer Beschreibung der augenblicklichen Konstellation der Weltgemeinschaft zu tun. Vielmehr muß unser Fragen nach der Friedens- oder Konfliktbereitschaft der Weltreligionen und ihrer Bedingungen – insbesondere aber im interreligiösen Verhältnis – auch aus der Perspektive der geschichtlichen Entwicklung der Religionen, ihrer mehr oder minder schmerzvollen Begegnung und der hierdurch bedingten Belastungen des Dialogs der Gegenwart beantwortet werden.

Doch zugleich empfinden, erahnen oder sehen wir gegenwärtig eine massive Infragestellung nicht nur unserer sog. westlichen Gesellschaftsordnung, sondern auch ihrer religiösen Grundlagen. Ich denke hierbei nicht sosehr an die vielbeschworene ‚Säkularisierung’ der sog. westlichen Gesellschaften, die man besser als ‚Auflösung des konfessionsgebundenen Christentums in den vertrauten kirchlichen Ordnungen’ verstehen sollte.

Ich denke vielmehr zum einen an die Behauptung, daß allen Monotheismen angeblich von Hause aus eine gewisse Intoleranz gegenüber jeglicher Form von Andersgläubigkeit innewohne. Aber ist dem richtig verstandenen Eingottglauben, der eben nicht im gegensätzlichen Denken zwischen ‚Wahrem’ und ‚Falschen’, zwischen ‚Gutem’ und ‚Bösen’ verfangen ist, tatsächlich ein verborgenes Gewaltpotential (nicht nur gegenüber Polytheismen), sondern überhaupt gegen jede andere Form von Religionsausübung zuzuschreiben? Ist also, auf unsere Religion übertragen, das Christentum zu bestimmten Zeiten sowie in konkreten Räumen, in denen es in Berührung mit anderen Religionsformen geraten ist, immer nur ‚konfliktbereit’ oder nicht auch grundsätzlich ‚friedens-, toleranz- und konvivenzfähig’ gewesen? In welchem Maße und warum überwog die eine Haltung die andere? Und wie wurden konkret ‚Frieden’, ‚Toleranz’ und ‚Zusammenleben’ praktiziert?

Ich denke zum anderen an die gleichermaßen zu kurz greifende Auffassung, wir stünden heute inmitten eines Konfliktes der Kulturen und Religionen. Diese Sichtweise verneint nicht nur grundsätzlich die genannte Friedensfähigkeit von Religionen. Sie verrät auch ein einseitiges, strategieorientiertes und damit interessengeleitetes Kultur- und Religionsverständnis, das von einer tiefgreifenden Radikalisierung rivalisierender Kultur- und Religionssysteme ausgeht und weltumspannende Prozesse aus einer bestimmten amerikanischen Fernsicht beschreibt. Diese Betrachtungsweise kann aber der besonderen Nahperspektive und dem Erfahrungshorizont eines gebildeten Europäers kaum entsprechen und erscheint daher wenig akzeptabel. Diese Perspektive widerspricht dem Befund der in Wirklichkeit wachsenden friedlichen Vernetzung und Durchdringung der verschiedenen kulturellen und religiösen Systeme und des rascheren Austausches von Informationen und Wissen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsformen auf unserer Erde. Ferner fehlt dieser Sichtweise das Gespür für die große Vielfalt der Positionen und Positionierungen innerhalb der kulturellen und religiösen Großsysteme.

Konflikte rühren nicht in erster Linie aus der Konfrontation sich angeblich abgrenzender kultureller und religiöser Großsysteme her, als vielmehr aus dem Versuch vereinzelter radikalkonservativer Gruppierungen, durch gezielte Übergriffe auf die jeweils andere Ordnung die tatsächliche oder befürchtete gegenseitige Durchdringung dieser Systeme gewaltsam zu unterbinden. Auch dürfte der Blick in die Geschichte deutlich machen, daß diese Übergriffe ein zeitlich begrenztes, wenn auch leider wiederkehrendes, aber kein Dauermerkmal von Kulturen und Religionen sind.

Schauen wir in unsere Vergangenheit zurück, so müssen wir festhalten, daß zahlreiche europäische Konflikte bis in die Gegenwart auch religiös motiviert waren: Während von muslimischer Seite die Zerstörung von al-Andalus in der spanischen Reconquista bis 1492, das Ende der türkischen Expansionsbewegung auf der ‚anderen Seite Europas’ vor Wien 1683 und der Zerfall des Osmanischen Reiches auf dem Balkan im frühen 20. Jahrhundert als politisch-militärische wie auch als religiös-kulturelle Niederlage des Islam verstanden werden, sind auf christlicher Seite das Scheitern der Kreuzzüge ins Heilige Land im 12. und 13. Jahrhundert, der endgültige Untergang des Oströmischen Reichs mit dem Fall Konstantinopels 1453, die Osmanische Herrschaft im orthodoxen Südosteuropa bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts und das Problem des internationalen Terrors militanter islamistischer Extremisten und seiner Duldung oder Förderung in islamischen Staaten seit dem späten 20. Jahrhundert bedrückende Erfahrungen der christlich-westlichen Welt.

Neben den Negativerlebnissen bestimmen bis heute auch Unwissenheit, daraus resultierende Vorurteile und Unbedachtsamkeit in der Begegnung die Wahrnehmung der jeweils anderen Religion und Kultur als eines Gegenbildes. Diese Fehlprägungen können nur erkannt und abgebaut werden, wenn ihre geschichtlichen Ursachen erforscht werden. Daher dürfte jedem Menschen die Notwendigkeit der historischen Perspektive auf die sich theoretisch und praktisch mit dem Thema der religiösen und kulturellen Konfrontation beschäftigenden Texte einsichtig sein.

Zu 2.: Geschichte als Kreativitätspotential für unsere Gegenwart.

Bei der näheren Auseinandersetzung mit dem interreligiösen Dialog wird ein bislang kaum überbrücktes Spannungsverhältnis zwischen der entschieden historischen Perspektive auf die Vergangenheit dieses Dialogs, der gegenwärtigen Praxis dieses Dialogverhältnisses in den sog. westlichen Gesellschaften und der intellektuellen Reflexion der gegenwärtigen Dialogsituation deutlich. Zum einen ist die Praxis vom Finden des gemeinsamen kleinsten Nenners als einer ersten Basis für die voraussetzungsgleiche und gleichberechtigte Begegnung im Dialog geprägt. Zum anderen ist man sich theoretisch einig, daß der Dialog aufgrund seines prozeßhaften Charakters ein Lernvorgang ist, das Schwierige und Verletzende, das Unausgesprochene und Verschwiegene gegenseitig zu benennen. Insofern ist es für das Gelingen des Dialogs der Gegenwart von größter Bedeutung, nicht nur um die momentan zentralen Inhalte der jeweils anderen Religion, sondern auch um ihre Entfaltung und um die Besonderheiten ihrer Vermittlung im Laufe der Religionsgeschichte zu wissen. Dies setzt eine Auseinandersetzung mit den hierfür einschlägigen Texten und den hieraus resultierenden Eigenarten dieser Begegnungsgeschichte voraus.

Sind freilich die Texte aus der Frühzeit der Begegnung beider Religionen zwischen dem 7. und dem 15. Jahrhundert überhaupt noch aussagekräftig für unsere komplizierte Gegenwart? Der hier formulierte Einwand ist kein Kunstgriff, mit dessen Hilfe ich mir einen gar nicht existierenden Widersacher schaffe. Es ist nämlich gegenwärtig durchaus üblich, oft relativ unbedacht die Aussagekraft eines mit geschichtswissenschaftlichen statt systematischen Methoden bearbeiteten Themas von zunehmender zeitlicher Entfernung vom Hier und Heute in Frage zu stellen. Sollten wir die Deutungshoheit jenen überlassen, die die Fülle des europäischen Erfahrungsschatzes allein auf das Heute reduzieren und hierdurch fast zwangsläufig die Gewordenheit des Heute als eine wesentliche Verstehenskategorie aus den Augen verlieren müssen? Tatsächlich gibt es kein überzeugendes Argument für die fehlende Aussagekraft eines Gegenstandes allein aufgrund seiner zeitlichen Distanz, da 1. zunehmende Entfernung vom Ausgangspunkt kein notwendiger Grund für eine im gleichen Maße wachsende Veränderung ist und 2. die Andersheit oder Fremdheit einer vergangenen Zeitstellung erfahrungsgemäß oft geringer zu veranschlagen ist, als manche Optimisten unter den Modernisten zu hoffen meinten.

Nimmt man jene Jahrhunderte alten Denk- und Handlungsmuster in Augenschein, jene in die Tiefen des kollektiven Gedächtnisses eingegrabenen Identitäten, die uns heute noch unterschiedslos in Krieg und Terror treiben, bedenkt man ferner, daß die Entstehung der europäischen Nationen und der kulturellen wie religiösen Fundamentalismen der sog. westlichen und restlichen Welt, des Christentums und des Islam mit ihren Denk- und Handlungsweisen und ihren Überzeugungspotentialen ins Mittelalter oder darüber hinaus zurückreichen, dann ist es wohl eher so, daß es kaum ein geeigneteres Zeitalter der europäischen Geschichte als das Mittelalter gibt, um in Bezugsetzung zu unserer Gegenwart die Verfangenheit des alles sie kennzeichnenden ‚Modernen’ in seiner vorgeblichen Modernität besser aufzuzeigen. Das Mittelalter bleibt eine Bezugsgröße und Bemessungsgrundlage für uns heute, da wir ohne dieses unser Heute gar nicht denken können. Wie anders könnte man etwa die Langzeitwirkung mentaler Phänomene im kollektiven Gedächtnis unserer Kulturen und Religionen abschätzen?

Bei aller Kritik an der so ach blutleeren historischen Perspektive wird häufig übersehen, daß diese Rezeptionsprozesse auslöst, ja, daß diese selbst Voraussetzung für die zugrundeliegenden Entwicklungen gewesen ist und insbesondere sie eine systemerhaltende und -entfaltende kulturelle und religiöse Phantasie und Kreativität des Einzelnen in der Gemeinschaft anregen kann. Wenn Phantasie tatsächlich Erfahrung ist, dann muß dem historischen Arbeiten angesichts des heute eingeforderten politischen, gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen Kreativitäts- und Modernitätsschubs in unseren reformbedürftigen westlichen Gemeinwesen, angesichts jenes dringend notwendigen Rucks durch diese Gesellschaften eine bedeutendere Rolle als bisher zukommen. Dieses Arbeiten kann offenkundig gewordene Gestaltungsdefizite abbauen, indem es das verborgene Wissen um verschiedenste Handlungsmöglichkeiten neu ausgräbt und zur Verfügung stellt: Wer Geschichte betreibt, denkt über die in Beschäftigung mit seiner eigenen und fremden Welt gesammelten Erfahrung nach. Auf den religiösen Menschen übertragen heißt dies: Geschichte treiben ist eine völlig berechtigte Form von Selbstbestimmung in unserer säkularen wie religiösen Gegenwart. Dieses bewußte Handeln ringt um Orientierung für eine bessere Zukunft auch der Religionen und ist damit Kennzeichen von Humanität im umfassenden Sinne. Ein so denkender und handelnder Mensch kann keine Gesellschaft ohne Religion wollen.

Historische Forschung, die ihre Bedeutung für die heutigen sog. westlichen Gesellschaften deutlich machen will, darf sich nicht mehr nur auf ihre klassischen Themen in Lehre und Forschung beschränken, sondern muß auch moderne, zeitgemäße Themen, Fragestellungen und Methoden zulassen und ausprobieren. Sie sollte sich dabei ernsthaft auf die gegenwärtig geführten Wissenschafts- und Gesellschaftsdebatten einlassen, aber sich gleichzeitig vor unangemessenen, verfälschenden Deutungsmustern und Wertungen hüten. Dies setzt ein Methodenbewußtsein voraus, denn die Bestandteile, Bilder und Begriffe, die das kulturelle Gedächtnis unserer Kulturen und Religionen ausmachen, müssen einer andauernden Be- und Hinterfragung unterzogen werden. Die Eigenheit historischer Forschung besteht darin, die zeittypischen Erscheinungen der Vergangenheit in ihrer Andersartigkeit ebenso zu benennen, wie sie die bis in ihre Zeitstellung zurückreichenden Entwicklungspotentiale und -linien, also die Modernität der Vergangenheit beschreiben muß. Das Bewußtsein für eine solche Haltung in unserer Gesellschaft neu zu formulieren, bedarf umfassender Anstrengungen.

Geschichte zu betreiben ist der Mut zum möglicherweise Unzeitgemäßen, da man gegen die Zeit arbeitet und damit auf die Zeit und damit vielleicht auf eine künftige Zeit hinarbeitet. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit wiederum ist eine Auseinandersetzung mit den Denk- und Handlungsmustern eines vornationalen Weltverständnisses, aber auch mit den Vorformen heutiger religiöser Fundamentalismen. Dieser Arbeit kommt eine wichtige Brückenbaufunktion, eine Vermittlerrolle zwischen dem vermeintlich überholten Gestern und dem neugierigen Heute zu. Hierin liegt eine große Chance zur Beförderung des geistigen und religiösen Dialogs der Gegenwart, da im kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaften Konzepte für eine transkulturelle und -religiöse Welt bei gleichzeitiger Wahrung der Eigenarten der Einzelkulturen und -religionen verborgen liegen. Die Wiederentdeckung und die Fruchtbarmachung dieser Entwürfe können den Umgang mit radikalen gesellschaftlichen und religiösen Kräften bereits diesseits vom Einsatz militärischer Mittel ermöglichen; sie können zugleich Kontrollinstrumentarien für unseren modernen Denkstil, seine Methoden und Ziele bereitstellen, indem sie im Wissen um die Unmöglichkeiten des früheren Denkens und Handelns die Möglichkeiten und Grenzen unseres heutigen Agierens aufzuzeigen vermögen: Hier liegt gleichsam die verborgene Aktualität der Vergangenheit begründet.

Nimmt man die angedeuteten Grenzen unseres Handelns in der Gegenwart näher in den Blick, so wird man einer Reihe von Hinderungsgründen für die Begegnung mit den ‚anderen’ Religionen gewahr, die weit zurückreichende Wurzeln haben:

- Die eurozentrische Weltsicht, die politisch bedeutsam wurde und auf die Gestaltung der Welt bis heute massiv einwirkt, reicht mindestens bis in das Zeitalter der Kreuzzüge und der spanischen Reconquista seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert zurück. Europäische Selbstverliebtheit, Propaganda und gewaltsame Durchsetzung europäisch-amerikanischer Wertvorstellungen (der sog. westlichen Welt) sind Weiterentwicklungen dieser Anschauung.

- Unser kulturelles und religiöses Selbstverständnis hat sich in der Auseinandersetzung mit anderen Großgemeinschaften herausgebildet, deren Geschichte noch deutlich älter ist.

- Der Entwicklungsgang der christlichen Gesellschaften in Europa, in Amerika und auf den anderen Kontinenten seit dem Ausgang des Mittelalters hat ein umfassendes und komplexes System von Werten sowie Individualitäts- und Gesellschaftsrechten (Menschenwürde, Grund- und Menschenrechte; Individualität, Freiheit und Selbstbestimmung; Demokratie und Souveränität) ausgebildet. Eine unmittelbare und umfassende Konfrontation anderer Gesellschaftsordnungen mit diesem Werte- und Rechtssystem muß notwendigerweise Spannungen hervorrufen. Deshalb ist eine Auflockerung der sehr komplexen Lernprozesse zwischen den Religionen und Kulturen durch historisches Verstehen angebracht, weil dieses leichter begreif- und handhabbare Gesellschaftsmodelle zur Diskussion stellen kann.
 

Zu 3. Spanien als Glücksfall für Europa.

Für die skizzierte historische Frageperspektive ist die Iberische Halbinsel zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert geradezu ein Glücksfall. Es handelt sich um einen relativ eigenständigen geographischen Übergangsraum zwischen Nordafrika und Westeuropa in einer geschlossenen politischen und kirchlichen Entwicklungs- und Vereinheitlichungsphase. Zwar war die Iberische Halbinsel im Laufe des gesamten Mittelalters ein Kontaktraum andauernder kultureller und religiöser Annäherungen, Berührungen, Austauschbewegungen und Konflikte zwischen Christentum und Islam, doch liegt die bislang besonders beachtete Hochzeit dieser Beziehungen im 12. und 13. Jahrhundert, während die weitere Überformungsphase im 14. und 15. Jahrhundert weniger intensiv erforscht ist. Dabei ist gerade die Iberische Halbinsel ein Sonderfall im christlichen Europa, da ihre Königreiche eine echte Trennung von ‚Kirche’ und ‚Staat’ im Rahmen der gemeinsamen Aufgabe der Reconquista nicht kannten, weshalb man hier den Prozeß einer christlichen ‚Nationswerdung’, einen politischen Entwicklungsprozeß allerersten Ranges, vor dem Hintergrund der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit dem bislang auf religiösem, kulturellem und politischem Terrain vorherrschenden Islam beschreiben kann. Nur hier läßt sich die Geschichte des interkulturellen und -religiösen Dialogs als Hintergrundfolie zur Gesellschafts- und Kirchengeschichte einer zumindest äußerlich erfolgreichen Rechristianisierung entfalten.

    Seit etwa 25 Jahren ist eine Zunahme sozial- und religionsgeschichtlicher Untersuchungen zum friedlichen, aber auch konfliktreichen Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen in den ‚Frontgesellschaften’ der spätmittelalterlichen iberischen Königreiche festzustellen. Erst in den letzten 15 Jahren sind dann von philosophischer, theologischer, religionsgeschichtlicher und philologischer Seite auch die Besonderheiten der schon bekannten interreligiösen Wahrnehmungsliteratur insbesondere der spanischen Christen angemessen gewürdigt worden. Auffallenderweise ist aber bislang nicht systematisch untersucht worden, ob und in welchem Maße die christliche Islamliteratur der Iberischen Halbinsel zum Frieden befähigte oder ob sie nicht doch im Kontext von Heiligem Krieg, Kreuzzügen und Reconquista vornehmlich zum Konflikt verleitete. Die umfassende Geschichte des interreligiösen Dialogs und seiner Bedingungen, Träger und Auswirkungen auf der Iberischen Halbinsel für das 12. bis 15. Jahrhundert ist noch zu schreiben.

Bevor ich im letzen Abschnitt meines Vortrags den Versuch eines Erkenntnistransfers zu Spanien zwischen Gestern und Heute unternehme, muß ich zunächst ein Warnschild errichten: Generell gilt es zu beachten, daß die Verstehenskategorien, mit denen wir heute arbeiten, nicht einfach auf vergangene Zustände übertragen werden können, die Deutung der anderen Zeitstellung also bisweilen schwieriger ist, als man dies zunächst annehmen möchte. Beispielsweise ist der für uns heute so zentrale Begriff ‚Toleranz’ im Mittelalter nicht mit der ‚Gewährung von Rechtsgleichheit ohne Diskriminierung’, sondern allenfalls mit dem ‚Verzicht auf Bekehrung oder Vertreibung’ gleichzusetzen.

Zugleich möchte ich den bereits vor einem halben Jahrhundert heftig diskutierten Einwand, die Geschichte der Iberischen Halbinsel sei ein Sonderfall der europäischen Geschichte, weshalb sie für eine generelle Betrachtung der interkulturellen und -religiösen Phänomene unserer Gegenwart relativ ungeeignet sei, etwas abschwächen. Es ist zwar richtig, daß die Iberische Halbinsel bis zur Einigung der Teilkönigreiche gegen Ende des 15. Jahrhunderts eine Sonderrolle in Europa gespielt hat: Es war in der Tat die einzige Großregion der lateinischen Christenheit, 1. die sich über Jahrhunderte hinweg in muslimischer Hand befand, 2. in der über lange Zeit hinweg die christlichen westgotischen und romanischen Einwohner neben Juden und Muslimen in einer relativ ‚missionslosen’ Zeit nebeneinander lebten und 3. die dem Islam bereits am Ende des Mittelalters wieder vollkommen entzogen war. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, daß die Iberische Halbinsel als relativ alter Bestandteil des Imperium Romanum Anteil am antiken Erbe hatte, immer als Teil Europas und der lateinischen Christenheit gesehen wurde und ähnlich wie Italien oder Frankreich im Zuge der germanischen Völkerwanderung überformt worden ist.

An den Anfang meiner nun folgenden Beobachtungen soll die Frage gestellt werden, ob das gerade in letzter Zeit wieder so viel gepriesene, bisweilen sogar idealisierte Zusammenleben von Angehörigen der drei monotheistischen Religionen im islamischen Teil der Iberischen Halbinsel (al-Andalus) nicht ein moderner Geschichtsmythos ist, dessen Tragfähigkeit sich angesichts des bis heute nicht aufgegebenen Schulterschlusses Spaniens mit den USA im 2. Irak-Krieg und angesichts der bezeichnenden innerspanischen Reaktionen nach dem 11. März 2004 als äußerst brüchig erwiesen hat. Kann uns die Betrachtung der multikulturellen und -religiösen Geschichte der Iberischen Halbinsel also geeignete Bewältigungsstrategien für die eigene Gesellschaftssituation an die Hand geben? Ich denke, daß die Antwort durchaus ‚Ja’ lauten darf, wenn man den Mythos auf seine wirklich aussagekräftigen Bestandteile befragt:

1. Seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert (1091) bzw. seit der Mitte des 12. Jahrhunderts (1147) erlebt die Iberische Halbinsel mit der Herrschaft der muslimischen Erneuerungsbewegung der berberischen Almoraviden-, dann Almohaden-Dynastie eine fundamentalistische Wende. Diese sich im Abstand von einem halben Jahrhundert einander ablösenden ‚muslimische Ritterbewegungen’, die ein Leben in Kloster-Kasernen führen und eine asketisch-fanatische Frömmigkeit mit soldatischem Kampfesmut verknüpfen, kommen auf die Halbinsel mit dem Ziel der Reinigung und Stärkung des dort bedrohlich erschlafften Islam. Ihre Anwesenheit führt zwar nach dem Zerfall des Kalifats von Córdoba zur Einigung der sich bekriegenden arabischen Kleinkönigreiche, dies aber zum Preis eines eher fundamentalistischen Regimes. Die Reconquista, nicht zuletzt getragen von den neuen iberischen geistlichen Ritterorden des 12. Jahrhunderts, die ihrerseits im Geiste des fundamentalistischen Kreuzzugsgedankens entstanden sind, ist eine scharfe christliche Antwort auf die hiermit verbundenen Abkehr vom relativ toleranten Islam der Kalifen von Córdoba und der Kleinkönige und ihre Konsequenzen für die unter muslimischer Herrschaft lebenden Mozaraber (muslimische Zwangsbekehrungsversuche, Aufstände von Christen und Juden). Offenkundig bedingen religiöse Fundamentalismen einander.

2. Hinter den religiösen Fundamentalismen beider Seiten stehen der gemeinsame Wille zur inneren Vereinheitlichung und gleichzeitigen Abgrenzung der Religionen in einem mit Skepsis und Mißtrauen beurteilten Experiment pragmatischen Zusammenlebens, auf der einen Seite die Rückbindung des iberischen Islam an den ‚wahren Islam’ nichtiberischer Muslime, auf der anderen Seite die Rückbindung der mozarabischen Kirche durch zumeist nichtiberische, vor allem französische Christen im Zuge der zunehmenden Vereinheitlichung oder ‚Römisierung’ der lateinischen Gesamtkirche. Kaum zufällig fällt der Beginn der Reconquista mit der Intensivierung der sog. ‚Gregorianischen Kirchenreform’ zusammen. Sichtbares Kennzeichen der ‚Römisierung’ der mozarabischen Kirche ist das auf dem Konzil von León 1090 ausgesprochene Verbot der gebräuchlichen westgotischen Minuskel in Büchern mit mozarabischer Liturgie, durch das in den bereits christlichen Teilen der Iberischen Halbinsel eine gregorianische Liturgiereform römischer Prägung durchgesetzt werden konnte. Die Angst vor der Okzidentalisierung des Islam und der Orientalisierung des Christentums befördert Radikalisierungstendenzen in beiden Religionen.

3. Das interreligiöse Zusammenleben ist sowohl vor wie nach der Verlagerung der kulturellen und religiösen Mehrheitsverhältnisse auf der Iberischen Halbinsel eine relativ gefährdete Größe, die zwischen ‚Duldung’, ‚Verfolgung’ und ‚Bekehrung’ bestehen muß. Unter der muslimischen Herrschaft sind die mozarabischen Christen trotz wirtschaftlichen Erfolges immer Schutzbefohlene und Bürger zweiter Klasse, die eine Grund- und Kopfsteuer leisten müssen, die ihre Religion nur privat ausüben dürfen, also auf jegliche missionarische Tätigkeit verzichten müssen. Hinsichtlich Kleidung, Sitten und Sprache sind sie einem merklichen Assimilierungsdruck ausgesetzt, dem nicht wenige durch Übertritt zum Islam entgehen. Auch unter christlicher Herrschaft ergeht es den Muslimen nicht wesentlich besser. Insofern kann man weder von einem ausschließlich toleranten Islam noch von einem ausschließlich intoleranten Christentum reden. Das Zusammenleben ist immer von einem Wechsel zwischen Privilegierung und Unterdrückung, zwischen Annäherung und Distanzierung geprägt. Minderheitengesetze verhindern eine echte und dauerhafte Ausbildung von friedlichem Zusammenleben. Nur die Gleichheit der Religionen vor dem Gesetz und die dadurch garantierte Freiheit der Religionsausübung garantieren dieses Zusammenleben.

4. Das Verhältnis der Perioden relativer Toleranz und Blüte (z. B. Córdoba im 10. Jahrhundert; Toledo im 12. und 13. Jahrhundert) und des Kampfes der Religionen wird nicht von den beiden Monotheismen als Großsystemen bestimmt, sondern von Einzelpersonen und Eliten, welche die zeitweilige Deutungshoheit über das Selbstverständnis der eigenen Religion und die praktische Gestaltung des interreligiösen Zusammenlebens erlangen. Religiöse Bestimmung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens gefährdet den inneren wie äußeren Frieden. Bei Verschiebungen der Gewichte besteht die Gefahr der Rückführung oder gar Reduzierung des Lebens auf das Religiöse als letzter Ausfluchtmöglichkeit. Ein zusätzliches Gefährdungspotential liegt im Ungleichgewicht der religiösen Verhältnisse, da entweder der Islam oder das Christentum die dominierende Religion gegenüber den jeweils geduldeten Religionen (einschließlich des Judentums) ist. Das friedliche Zusammenleben ist also immer dann bedroht, wenn von einer oder beiden Seiten ein absoluter Geltungsanspruch formuliert wird.

5. Die Politik der zeitweiligen Toleranz der Christen während ihrer Expansion seit der Eroberung Toledos (1085), die bis ins 13. Jahrhundert reicht, endet im Augenblick der deutlichen militärischen Überlegenheit. Seit dieser Zeit ist ein Ansteigen der Intoleranz insbesondere im Strategiewechsel der christlichen Autoren (nicht nur) der Iberischen Halbinsel ablesbar. Die Position der physischen Stärke trägt die Gefahr der intellektuellen, kulturellen und religiösen Aggression in sich.
 

Öffentlicher Vortrag, Breuburg, Kreis der Breubergfreunde, 30. Oktober 2004.
 

© by Dr. Matthias M. Tischler