Hugo von Sankt Viktor - Institut
für Quellenkunde des Mittelalters

Exorzistische Riten und die Phänomenologie paranormaler Erfahrungen
bei Hugo von Sankt Viktor

Dieses Projekt wird gegenwärtig nicht fortgeführt.

Hinsichtlich der kritischen Edition der Werke Hugos von Sankt Viktor erscheint die Frage nach den ihm bekannten Quellen von zentraler Bedeutung. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist langfristig die Erfassung und Analyse der Bibliotheksbestände der Abtei Sankt Viktor geplant. Besondere Aufmerksamkeit kommt in diesem Zusammenhang den liturgischen Schriften zu, da diese Texte das tägliche Leben prägten, somit auch den Glauben und die Theologie.

In diesem Kontext steht das Projekt 'Exorzistische Riten und die Phänomenologie paranormaler Erfahrungen bei Hugo von Sankt Viktor'. Hier wird ein Aspekt aus der Vielfalt der Liturgie aufgegriffen, der nicht nur ein besseres Verständnis der Viktoriner Theologie ermöglichen soll, sondern auch - für den begrenzten Raum einer Pariser Abtei -, zur Klärung der liturgie- und theologiegeschichtlichen Genese des Großen Exorzismus von 1614 beitragen kann.

Ziel des Projektes ist zunächst, die exorzistische Praxis der Abtei Sankt Viktor zu erhellen. Dies bedingt eine Bestandsaufnahme aller exorzistischen Riten in den erhaltenen liturgischen Büchern, sowie die Beschreibung ihres Kontextes und ihre Deutung aufgrund des bisherigen Wissensstandes. Darüber hinaus soll die Phänomenologie und Theorie paranormaler Erfahrungen in den Schriften Hugos von Sankt Viktor untersucht und mit der in den liturgischen Büchern grundgelegten Praxis der Abtei verglichen werden, um so auch eine theoretische Grundlegung zu erhalten.

 In einem ersten Arbeitsschritt wurde der für die Fragestellung relevante Quellenbestand eruiert und bibliographisch erfaßt. Nach der Auflösung der Abtei in der Französischen Revolution gingen die Handschriften nicht verloren. Der größte Teil des Bibliotheksbestandes gelangte in den Besitz der Bibliothèque Nationale in Paris, kleinere Anteile entfielen u.a. auf die Pariser Bibliotheken Mazarine und de l'Arsenal. Die Durchsicht des von G. Ouy und V. Gerz - von Buren edierten Bibliothekskatalogs des Claude de Grandrue (1514) ergab als Kernbestand für die Untersuchung ein Korpus von 50 liturgischen Handschriften der Abtei, sowie 75 weiteren Handschriften mit Texten, die sich in unterschiedlicher Weise mit paranormalen Phänomenen auseinanderzusetzen scheinen.(1)

Nach einer vorläufigen paläographisch-kodikologischen Analyse der liturgischen Handschriften folgt nun die Transkription einschlägiger Texte. Die übrigen Manuskripte werden schwerpunktmäßig inhaltlich analysiert. Zu diesem Zweck wurde bereits ein Großteil der Handschriften auf Mikrofiche bestellt, weitere Manuskripte konnten in der Bibliothèque Nationale selbst eingesehen und vor Ort analysiert werden.

Das vom Freiburger Institut für Grenzfragen der Psychologie und Psychohygiene e.V. finanzierte Projekt versteht sich als Beitrag zur Historischen Parapsychologie. Darunter verstehen wir die Erforschung solcher Phänomene, die Gegenstand heutiger Parapsychologie sind, in der Geschichte.
Es geht also zum einen um die historische Entwicklung paranormaler Phänomene. Aufgrund der Einsichten aller Kulturwissenschaften läßt sich erwarten, daß Menschen zu allen Zeiten außergewöhnliche, außeralltägliche oder außernatürliche Phänomene wahrnahmen, sie mit spezifischen Deutungen zu erklären versuchten und mit besonderen Handlungen zu beeinflussen
und in das normale Leben zu integrieren suchten. In einer historischen Phänomenologie des Paranormalen wird die kulturell bedingte Grenze zwischen Normalem und Paranormalem studiert. So fragt sich in unseren Projekt, inwieweit z.B. Engel und Dämonen im Mittelalter zum Bereich normaler Realitätserfahrung gehörten. Mittels der Deutungs- und Handlungsgeschichte
wollen wir zu einer Wahrnehmungsgeschichte vordringen und untersuchen in solchem Interesse exemplarisch die Liturgie der Abtei von Sankt Viktor sowie die Deutungsansätze in Schriften Viktoriner Autoren.
Zum anderen interessiert uns in der Historischen Parapsychologie das Verhältnis der Erklärungsmuster zu der realen liturgischen Praxis z.B. des Taufexorzismus, in dem als Voraussetzung der Taufe und d.h. des Eingehens des Heiligen Geistes Dämonen ausgetrieben und die Leibesöffnungen zum Schutz gegen ein erneutes Eindringen von Dämonen durch eine
Salbung verschlossen werden. Dieser Forschungsfrage widmen wir uns derzeit, indem wir Texte zur Taufe aus dem Bereich der Liturgie mit theoretischen Texten zur Taufe und den Sakramenten überhaupt von Hugo von Sankt Viktor und anderen Viktoriner Autoren vergleichen.
Eine spezifische Frage, die unser Projekt schon seit 1996 leitet, ist diejenige nach der Vorgeschichte des Rituale Romanum von 1614. Erste Ergebnisse konnten wir bei der Tagung des Freiburger Instituts im April 1999 präsentieren. In unserem Textmaterial fanden sich fast wortwörtlich mit dem Rituale Romanum übereinstimmende Texte zur Taufliturgie, aber wir
fanden keinen auch nur partiell übereinstimmenden Text bezüglich der Austreibung bei Besessenen. Die betreffenden Gebete des Rituale Romanum scheinen uns von daher ein typisch neuzeitliches Phänomen zu sein. Inhaltlich-systematisch sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß paranormale Phänomene im Mittelalter im weiteren Kontext von Heil und Heilung zu
betrachten sind. Die heilsgeschichtliche Perspektive ist nicht nur bei Hugo die vorherrschende, sondern die im ganzen Mittelalter grundlegende. So dient der Taufexorzismus therapeutisch der innerweltlichen Psychohygiene, zugleich und übergeordnet aber zur Erlangung jenseitigen Heils. Die Heilung durch das Sakrament ist kein rein innerweltliches Naturereignis, sondern ein Gnadenakt.

Außerdem wird die vollständige Bibliographie zu dem oben genannten Handschriftenkorpus erstellt. Eine erste Erhebung anhand gängiger Bibliographien zeigte, daß es kaum Vorarbeiten zur Liturgie der Abtei Sankt Viktor im allgemeinen und zur Frage nach eventuellen exorzistischen Praktiken im besonderen gibt. Darüber hinaus konnten wir die Materialsammlungen des Institut de Recherche et d'Histoire des Textes und des Départments des Manuscrits Occidentaux der Pariser Bibliothèque Nationale einsehen.


(1) OUY, Gilbert / GERZ-VON BUREN, Veronika: Le Catalogue de la Bibliothèque de l'Abbaye de Saint-Victor de Paris de Claude de Grandrue 1514, Paris 1983. Zurück zum Text.