Hugo von Sankt Viktor - Institut
für Quellenkunde des Mittelalters

Christlich-muslimischer Dialog in Spanien, 12.-15. Jahrhundert

"Spanien zwischen 711 und dem 11. März 2004.
Was wir aus der Geschichte der Iberischen Halbinsel lernen können"


Bevor ich die Gedanken meines Vortrags zu entwickeln beginne, möchte ich Sie, liebe Besucherinnen und Besucher des Sommerprogramms der Katholischen Erwachsenenbildung Frankfurt und Hochtaunus mit der Frage konfrontieren, welche persönlichen Erinnerungsbestände, Gedanken und Emotionen in Ihnen aufkommen, wenn Sie einerseits die Schlagworte „Mohammed“, „Djhad“, „Der Fall Konstantinopels 1453“, „Die Türken vor Wien“, „Ayatola Khomenei“, „Sarajevo“, „Beitritt der Türkei in die EU“, „11. September“ oder „11. März“ hören … . Und was erinnern, denken und fühlen Sie, wenn ich Ihnen andererseits die Stichworte „Jesus Christus“, „Kreuzzüge“, „Heiliger Krieg“, „Reconquista“, „Granada 1492“, „Afghanistan“ oder „Irak-Krieg der USA“ vorgebe? Sehen Sie lediglich zwei sich kontrastierende Ketten herausragender Gestalten und Ereignisse der christlich-muslimischen Religionsgeschichte oder nicht auch einen fundamentalen Widerspruch zwischen dem jeweiligen Ausgangs- und Endpunkt dieser Ketten?

    In der folgenden Dreiviertelstunde wird es mir vornehmlich um eine Skizze einiger grundlegender Gedanken zum Verhältnis zwischen Christen und Muslimen gehen. Der Vortrag soll die Grundlage unserer gemeinsamen Diskussion, unseres Austausches von Gedanken, Anregungen aber auch Befürchtungen sein. Und er will ein Plädoyer für einen dezidiert anders geführten interreligiösen Dialog zwischen Christen und Muslimen sein als er gegenwärtig zumeist praktiziert wird.

    Mein Vortrag besteht aus drei Abschnitten, die sich zunehmend auf den eigentlichen Gegenstand meines Themas – „Spanien“ – fokussieren. Zunächst versuche ich eine kurze Zustandsbeschreibung der christlich-muslimischen Begegnung in der europäischen Geschichte und Gegenwart (1.). Dann folgt ein längerer Abschnitt, in dem ich erläutern möchte, warum insbesondere eine historische Perspektive auf diese Begegnung für den interreligiösen Dialog der Gegenwart von erstrangiger Bedeutung ist und zunehmend sein wird (2.). Schließlich versuche ich die Aussagefähigkeit dieser Perspektive an einigen Aspekten des Fallbeispiels „Spanien zwischen Gestern und Heute“ aufzuzeigen (3.).

Zu 1.

Wir leben in einem Zeitalter repolitisierter oder politisierender Religionen. Die auch als Bedrohung religiöser wie kultureller Identitäten empfundene Globalisierung der Gegenwart ruft aber nicht nur Regionalisierungstendenzen auf den Plan. Sie sorgt auch für ein Wiedererstarken des eigenen kulturellen, gesellschaftlichen, ethnischen und religiösen Bewußtseins. Die Wiederkehr der individuellen sakralen und religiösen Praxis ist eine Reaktion auf die Wahrnehmung der Welt als eines globalen Ortes. Dieser zunehmend anerkannte politische, gesellschaftliche und religiöse Befund rückt die Frage nach der Friedensfähigkeit und Konfliktträchtigkeit von den im Aufbruch befindlichen Weltreligionen in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen wie kirchlichen Interesses. Wir haben es hier nicht nur mit einer Beschreibung der augenblicklichen Konstellation der Weltgemeinschaft zu tun. Vielmehr muß unser Fragen nach der Friedens- oder Konfliktbereitschaft der Weltreligionen und ihrer Bedingungen – insbesondere aber im interreligiösen Verhältnis – auch aus der Perspektive der geschichtlichen Entwicklung der Religionen, ihrer mehr oder minder schmerzvollen Begegnung und der hieraus resultierenden Belastungen des Dialogs der Gegenwart beantwortet werden.

    Wir empfinden, erahnen oder sehen gegenwärtig eine massive Infragestellung nicht nur unserer sog. westlichen Gesellschaftsordnung, sondern auch ihrer religiösen Grundlagen. Ich denke hierbei nicht sosehr an die seit Émile Durkheim und Max Weber vielbeschworene ‚Säkularisierung’ der sog. westlichen Gesellschaften, die man vielleicht besser als ‚Diffundierung des konfessionsgebundenen Christentums in diesen sozialen Ordnungen’ bezeichnen könnte.

    Ich denke vielmehr zum einen an die These der allen Monotheismen angeblich von Hause aus innewohnenden Intoleranz gegenüber jeglicher Form von Andersgläubigkeit (Jan Assmann). Aber ist dem richtig verstandenen Eingottglauben, der eben nicht im dichotomischen Denken zwischen ‚Wahrem’ und ‚Falschen’, zwischen ‚Gutem’ und ‚Bösen’ verfangen ist, tatsächlich ein latentes Gewaltpotential (nicht nur gegenüber Polytheismen), sondern überhaupt gegen jede andere Form von Religionsausübung zuzuschreiben? Ist also, auf unsere Religion übertragen, das Christentum zu bestimmten Zeiten sowie in konkreten Räumen, in denen es in Berührung mit anderen Religionsformen geraten ist, immer nur 'konfliktbereit' oder nicht auch grundsätzlich ‚friedens-, toleranz- und konvivenzfähig’ gewesen? In welchem Maße und warum überwog die eine Haltung die andere? Und wie wurden konkret ‚Frieden’, ‚Toleranz’ und ‚Zusammenleben’ praktiziert?

    Ich denke zum anderen an die gleichermaßen zu kurz greifende Auffassung, wir stünden heute inmitten eines Konfliktes der Kulturen und Religionen (Samuel P. Huntington). Diese Sichtweise negiert nicht nur grundsätzlich die genannte Friedensfähigkeit von Religionen, sondern verrät auch ein einseitiges, strategieorientiertes und damit interessengeleitetes Kultur- und Religionsverständnis, das von einer tiefgreifenden kulturellen und religiösen Durchdringung (oder gar Radikalisierung) rivalisierender Gesellschaftssysteme ausgeht und globale Prozesse aus einer bestimmten amerikanischen Fernsicht beschreibt, die der spezifischen Nahperspektive und dem Erfahrungshorizont eines gebildeten Europäers kaum entsprechen und daher wenig akzeptabel erscheinen können. Diese Perspektive widerspricht dem Befund der in Wirklichkeit wachsenden friedlichen Vernetzung und Durchdringung der verschiedenen kulturellen und religiösen Systeme und des rascheren Austausches von Informationen und Wissen zwischen den diversen Gesellschaftsformen auf unserer Erde. Ferner fehlt dieser Perspektive der Sensus für die große Vielfalt der Positionen und Positionierungen innerhalb der kulturellen und religiösen Großsysteme.

    Konflikte rühren nicht in erster Linie aus der Konfrontation sich angeblich abgrenzender kultureller und religiöser Großsysteme her, als vielmehr aus dem Versuch vereinzelter radikalkonservativer Gruppierungen, durch gezielte Übergriffe auf die jeweils andere Ordnung die tatsächliche oder befürchtete gegenseitige Durchdringung dieser Systeme gewaltsam zu unterbinden. Auch dürfte klar sein, daß dies ein zeitlich begrenztes, wenn auch immer wiederkehrendes, aber kein Dauerphänomen von Kulturen und Religionen ist.

    Blicken wir zurück in unsere Geschichte, so müssen wir festhalten, daß zahlreiche europäische Konflikte bis in die jüngste Vergangenheit auch religiös motiviert waren: Während von muslimischer Seite die Zerstörung von al-Andalus in der spanischen Reconquista bis 1492, das Ende der türkischen Expansionsbewegung auf der 'anderen Seite Europas' vor Wien 1683 und der Zerfall des Osmanischen Reiches auf dem Balkan im frühen 20. Jahrhundert als politisch-militärische wie auch als religiös-kulturelle Niederlage des Islam verstanden wird, sind auf christlicher Seite das Scheitern der Kreuzzüge ins Heilige Land im 12. und 13. Jahrhundert, der endgültige Untergang des Oströmischen Reichs mit dem Fall Konstantinopels 1453, die Osmanische Herrschaft im orthodoxen Südosteuropa bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts und das Problem des internationalen Terrors militanter Islamisten und seiner Duldung oder Förderung in islamischen Staaten seit dem späten 20. Jahrhundert bedrückende Erfahrungen der christlich-westlichen Welt.

    Neben den Negativerlebnissen prägen bis heute auch Unwissenheit, daraus resultierende Vorurteile und Unreflektiertheit die Wahrnehmung der jeweils anderen Religion und Kultur als eines Gegenbildes. Diese Fehlprägungen können nur analysiert und abgebaut werden, wenn ihre geschichtlichen Ursachen erforscht werden. Daher dürfte jedem Menschen die Notwendigkeit der historischen Perspektive auf die sich theoretisch und praktisch mit dem Thema der religiösen und kulturellen Konfrontation beschäftigenden Texte einsichtig sein.

Zu 2.

Bei der näheren Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex des interreligiösen Dialogs wird freilich ein bislang kaum überbrücktes Spannungsverhältnis zwischen der dezidiert historischen Perspektive auf die Geschichte dieses Dialogs, der Praxis dieses Dialogverhältnisses in den sog. westlichen Gesellschaften und der intellektuellen Reflexion der gegenwärtigen Dialogsituation deutlich. Zum einen ist die Situation vom Finden des gemeinsamen kleinsten Nenners als einer ersten Basis für die voraussetzungsgleiche und gleichberechtigte Begegnung im Dialog geprägt. Zum anderen ist man sich einig, daß der Dialog aufgrund seines prozeßhaften Charakters ein Lernvorgang ist, das Schwierige und Verletzende, das Unausgesprochene und Verschwiegene gegenseitig zu benennen. Insofern ist es für das Gelingen des Dialogs der Gegenwart von größter Bedeutung, nicht nur um die gegenwärtig zentralen Inhalte der jeweils anderen Religion, sondern auch um ihre Entfaltung und um die methodische Prozeßhaftigkeit ihrer Vermittlung im Laufe der Religionsgeschichte zu wissen. Dies setzt eine Geschichte von den hierfür einschlägigen Texten und den hieraus resultierenden Eigenarten dieser Begegnungsgeschichte voraus.

    Sind freilich die Texte aus der Frühzeit der Begegnung beider Religionen zwischen dem 7. und dem 15. Jahrhundert überhaupt noch relevant für die Gegenwart? Der hier formulierte Einwand ist kein rhetorischer Kunstgriff, mit dessen Hilfe ich mir einen zu widerlegenden Opponenten schaffe, den es in Wirklichkeit nicht gibt. Vielmehr ist es gegenwärtig durchaus üblich, zumeist relativ unreflektiert die Gegenwartsbezüglichkeit eines mit geschichtswissenschaftlichen statt systematischen Methoden bearbeiteten Gegenstandes von zunehmender zeitlicher Entfernung vom Hier und Heute in Frage zu stellen. Sollten wir die Deutungshoheit jenen überlassen, die die Fülle des zu deutenden Potentials auf das Heute reduzieren und hierdurch notwendigerweise die Gewordenheit des Heute als eine wesentliche Verstehenskategorie aus den Augen verlieren müssen? Tatsächlich gibt es im Letzten kein überzeugendes Argument für die Irrelevanz eines Gegenstandes allein aufgrund seiner zeitlichen Distanz, da 1. zunehmende Entfernung vom Ausgangspunkt kein notwendiger Grund für eine im gleichen Maße wachsende Veränderung ist und 2. die Andersheit oder Fremdheit (sog. ‚Alterität’) einer vergangenen Zeitstellung erfahrungsgemäß oft geringer zu veranschlagen ist, als manche Optimisten unter den Modernisten oder selbsterklärten ‚Postmodernisten’ (was ist das eigentlich?) zu hoffen meinten.

    Nimmt man jene Jahrhunderte alten Denk- und Handlungsmuster in Augenschein, jene in die Tiefen des kollektiven Gedächtnisses eingegrabenen Identitäten, die uns heute noch unterschiedslos in Krieg und Terror treiben, bedenkt man ferner, daß die Entstehung der europäischen Nationen und der kulturellen wie religiösen Fundamentalismen der sog. westlichen und restlichen Welt, des Christentums und des Islam mit ihren Denk- und Handlungsweisen und ihren Überzeugungspotentialen ins Mittelalter oder darüber hinaus zurückreichen, dann ist es wohl eher so, daß es kein geeigneteres Zeitalter der europäischen Geschichte als das Mittelalter gibt, um in Bezugsetzung zu unserer Gegenwart die Verfangenheit des alles sie kennzeichnenden ‚Modernen’ in seiner vorgeblichen Modernität besser aufzuzeigen. Das Mittelalter bleibt eine Bezugsgröße und Bemessungsgrundlage für uns heute, da wir ohne dieses unser Heute gar nicht denken können. Wie anders könnte man etwa die Langzeitwirkung mentaler Phänomene im kollektiven Gedächtnis unserer Kulturen und Religionen abschätzen?

    Zugegeben, die Beschäftigung mit Fremdheit ist oft beunruhigend, da sie zur Auseinandersetzung mit dem Vertrauten oder gar Liebgewonnenen herausfordert. Vielleicht liegt in diesem Relativisierungspotential weiter ausgreifender geschichtlicher Perspektivität einer der Hauptgründe für den mehr oder weniger unbewußten Versuch der Eindämmung hinterfragender Positionen innerhalb vermeintlich letztgültig gewonnener gesellschaftlicher, politischer und kirchlicher Strukturen. Dabei wird häufig übersehen, daß allein die historische Perspektive, die unweigerlich Rezeptionsprozesse auslöst, selbst Voraussetzung für die zugrundeliegenden Entwicklungen gewesen ist und insbesondere sie eine systemerhaltende kulturelle und religiöse Phantasie und Kreativität des Einzelnen in der Gemeinschaft anregen kann. Es soll hier keinem akademischen ‚Neohistorizismus’ das Wort geredet werden: ein Zuviel an Historie kann im Sinne Nietzsches durchaus dem Leben abträglich sein, weil die Gefahr der Überheblichkeit gegenüber jeder vergangenen Zeit besteht, so wie es auch die Gefahr eines Zuwenig an Historie, die Bedrohung durch eine völlige Relativierung einer allein auf die Zukunft orientierten Gegenwart, eine Art Entwurzelung der Zukunft gibt. Es geht also um ein angemessenes Austarieren zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig an historischer Perspektive inmitten unseres Lebens. Wenn aber Phantasie tatsächlich Erfahrung ist, dann muß dem historischen Arbeiten angesichts des eingeforderten politischen, gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen Kreativitäts- und Modernitätsschubs in unseren reformbedürftigen westlichen Gemeinwesen, angesichts jenes dringend notwendigen Rucks durch diese Gesellschaften eine bedeutendere Rolle als bisher zukommen. Dieses Arbeiten kann offenkundig gewordene Gestaltungsdefizite abbauen, indem es das Wissen um verschiedenste Handlungsmöglichkeiten eruiert und zur Verfügung stellt: Wer Geschichte betreibt, denkt über die in Beschäftigung mit seiner eigenen und fremden Welt gesammelten Erfahrung nach. Geschichte treiben ist eine legitime Form von gegenwartsbezogener Selbsterinnerung und Selbstreflexion: Sie ringt um Orientierung für eine bessere Zukunft und ist damit Kennzeichen von Humanität im umfassenden Sinne.

    Mediävistische Forschung, die ihre Bedeutung für die heutigen sog. westlichen Gesellschaften deutlich machen will, darf sich nicht mehr nur auf ihre klassischen Themen in Lehre und Forschung beschränken, sondern muß auch moderne, zeitgemäße Themen, Fragestellungen und Methoden zulassen und ausprobieren. Sie sollte sich dabei ernsthaft auf die gegenwärtig geführten Wissenschafts- und Gesellschaftsdebatten einlassen, aber sich gleichzeitig vor inadäquaten, verfälschenden Deutungsmustern und Wertungen hüten. Dies setzt ein reflektiertes Methodenbewußtsein voraus, denn die Bestandteile, Bilder und Begriffe, die das kulturelle Gedächtnis unserer Kulturen und Religionen ausmachen, müssen einer andauernden Be- und Hinterfragung unterzogen werden. Die Eigenheit mediävistischer Forschung besteht darin, die zeittypischen (‚mittelalterlichen’) Phänomene in ihrer Andersartigkeit ebenso zu benennen, wie sie die bis in ihre Zeitstellung zurückreichenden Entwicklungspotentiale und -linien, mithin also die Modernität des Mittelalters beschreiben muß. Das Bewußtsein für eine solche Forschungsposition in unseren Gesellschaften neu zu formulieren, bedarf umfassender Anstrengungen, die insbesondere von der nächsten Generation von Wissenschaftlern getragen werden muß.

    Geschichte zu betreiben ist der Mut zum möglicherweise Unzeitgemäßen, da man gegen die Zeit arbeitet und damit auf die Zeit und damit vielleicht auf eine künftige Zeit hinarbeitet. Die Beschäftigung mit dem Mittelalter wiederum ist eine Auseinandersetzung mit den verschiedensten Denk- und Handlungsmustern eines vornationalen Weltverständnisses, aber auch mit den Vorformen heutiger religiöser Fundamentalismen gleich welcher Herkunft. Dieser Arbeit kommt eine wichtige Brückenbaufunktion, eine Vermittlerrolle zwischen dem vermeintlich überholten Gestern und dem neugierigen Heute zu. Hierin liegt eine große Chance zur Beförderung des geistigen und religiösen Diskurses der Gegenwart, da im kollektiven Gedächtnis der aktuellen Gesellschaften Konzepte für eine transkulturelle und transreligiöse Welt bei gleichzeitiger Wahrung der Eigenarten der Einzelkulturen und -religionen verborgen liegen, deren Wiederentdeckung den Umgang mit radikalen gesellschaftlichen und religiösen Kräften bereits diesseits vom Einsatz militärischer Mittel ermöglichen können und zugleich Kontrollinstrumentarien für unseren modernen Denkstil, seine Methoden und Ziele bereitstellen, indem sie im Wissen um die Unmöglichkeiten des früheren Denkens und Handelns die Möglichkeiten und Grenzen unseres heutigen Agierens aufzuzeigen vermögen: Hier liegt gleichsam die latente Aktualität des Mittelalters begründet. Im Unterschied hierzu ist die ausstehende Aktualität des Mittelalters jene, die in den unausgeschöpften, weil auf dem Wege der Weitergabe von Wissen vergessenen Deutungspotentialen dieser Zeitepoche besteht, welche uns aus heutigen Irrwegen des Denkens und Handelns herausführen können. Eine dritte Form von Aktualität ergibt sich aus den beiden zuvor genannten, insofern die Erkenntnis einer bis ins Mittelalter zurückreichenden Kontinuität die Scheidung des Eigenen und des bloß Tradierten ermöglicht.

    Nimmt man die erwähnten Grenzen unseres Handelns in der Gegenwart näher in den Blick, so wird man einer Reihe von Hinderungsgründen für die Begegnung mit den ‚anderen’ Religionen gewahr, die ihre Wurzeln mindestens im Mittelalter haben:

- Die eurozentrische Weltsicht, die politisch relevant wurde und auf die Gestaltung der Welt bis heute massiv einwirkt, reicht mindestens bis in das Zeitalter der internationalen Kreuzzüge und der spanischen Reconquista seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert zurück. Europäische Selbstverliebtheit, Propaganda und gewaltsame Durchsetzung europäisch-amerikanischer Wertvorstellungen (der sog. westlichen Welt) sind Entwicklungen dieser Anschauung.

- Unser kulturelles und religiöses Selbstverständnis hat sich in der Auseinandersetzung mit anderen Großgemeinschaften herausgebildet, deren Geschichte noch deutlich älter ist.

- Der Entwicklungsgang der christlichen Gesellschaften in Europa, in Amerika und auf den anderen Kontinenten seit dem Ausgang des Mittelalters hat ein umfassendes und komplexes System von Werten sowie Individualitäts- und Gesellschaftsrechten (Menschenwürde, Grund- und Menschenrechte; Individualität, Freiheit und Selbstbestimmung; Demokratie und Souveränität) ausgebildet. Eine unmittelbare und umfassende Konfrontation anderer Gesellschaftsordnungen mit diesem Werte- und Rechtssystem muß notwendigerweise Spannungen hervorrufen. Deshalb tut eine Auflockerung der in jeder Hinsicht viel zu komplexen Lern- und Akkulturationszumutungen durch historisches Verstehen aus einer prononciert mediävistischen Perspektive not, weil diese leichter begreif- und handhabbare Gesellschaftsmodelle zur Diskussion stellen kann.
 

Zu 3.

Für die skizzierte historische Frageperspektive ist die Iberische Halbinsel im Hoch- und Spätmittelalter geradezu ein Glücksfall. Es handelt sich um einen relativ eigenständigen geographischen Übergangsraum zwischen Nordafrika und Westeuropa in einer geschlossenen politischen und kirchlichen Transformations- und Homogenisierungsphase. Zwar war die Iberische Halbinsel im Laufe des gesamten Mittelalters ein Kontaktraum andauernder kultureller und religiöser Annäherungen, Berührungen, Austauschbewegungen und Konflikte zwischen Christentum und Islam, doch liegt die bislang besonders beachtete Hochzeit dieser Beziehungen im 12. und 13. Jahrhundert, während die weitere Transformationsphase im 14. und 15. Jahrhundert weniger intensiv erforscht ist. Dabei ist gerade die Iberische Halbinsel ein Sonderfall im christlichen Europa, da ihre Königreiche eine echte Trennung von ‚Kirche’ und ‚Staat’ im Rahmen der gemeinsamen Aufgabe der Reconquista nicht kannten, weshalb man hier den Prozeß einer erfolgreichen christlichen ‚Nationswerdung’, einen politischen Transformationsprozeß allerersten Ranges, vor dem Hintergrund der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit dem bislang auf religiösem, kulturellem und politischem Terrain vorherrschenden Islam beschreiben kann. Nur hier läßt sich die Geschichte des interkulturellen und -religiösen Dialogs als Hintergrundfolie zur Gesellschafts- und Kirchengeschichte einer zumindest äußerlich erfolgreichen Rechristianisierung entfalten.

    Seit etwa 25 Jahren ist eine Zunahme sozial- und religionsgeschichtlicher Untersuchungen zum friedlichen Zusammenleben (sog. ‚Konvivenz’) und konfliktuellem Verhalten zwischen Christentum und Islam in den ‚Frontgesellschaften’ der spätmittelalterlichen iberischen Königreiche festzustellen. Erst in den letzten 15 Jahren sind dann von philosophischer, theologischer, religionsgeschichtlicher und philologischer Seite auch die Besonderheiten der schon bekannten interreligiösen Wahrnehmungsliteratur insbesondere der spanischen Christianitas adäquater gewürdigt worden. Auffallenderweise ist aber bislang nicht systematisch untersucht worden, ob und in welchem Maße die christliche Islamliteratur der Iberischen Halbinsel zum Frieden befähigte oder ob sie nicht doch im Kontext von Heiligem Krieg, Kreuzzügen und Reconquista vornehmlich zu konfliktuellem Verhalten verleitete. Die umfassende Geschichte der interreligiösen kommunikativen Prozeßhaftigkeit und ihrer Bedingungen, Träger und Auswirkungen auf der Iberischen Halbinsel für das 12. bis 15. Jahrhundert ist noch zu schreiben.

    Um die hier zu untersuchenden Konzepte der spanischen Christianitas zur Friedensfähigkeit und Aggressionsbereitschaft richtig bewerten zu können, müssen diese in die soziale, politische und militärische Entwicklungsgeschichte der Iberischen Halbinsel eingebettet werden. Die hierbei angestrebte Bemessung der literarischen und sozialen Verhaltensmuster durch eine Ausdifferenzierung der Motiv- und Handlungsfelder wird den generalisierenden Begriff der ‚christlichen Islam-Polemik’ mit ziemlicher Sicherheit ad absurdum führen. Die Skala christlicher Positionierungen gegenüber dem Islam zwischen ‚Krieg’ und ‚Frieden’ in Theorie und Praxis ist tatsächlich breitgefächert; sie reicht von ‚Ignoranz’ über ‚Unwissenheit’ und ‚indifferenter Koexistenz’ bis hin zur ‚mißverständnis- und vorurteilsbehafteten und pragmatischen Konvivenz’, von ‚kirchlichem Missionsauftrag’, ‚Dialogverweigerung’ und ‚Schweigen’ bis hin zu ‚Toleranz’, ‚Dialogversuchen’ und ‚Lernprozessen’, von ‚Druck auf die Gesprächsthemen und -führung durch Veränderung der politisch-gesellschaftlichen Lage’ bis hin zur ‚theoretischen und praktischen Überwindung traditioneller Wahrnehmungs- und Argumentationsschemata im dialogischen Miteinander’, vom ‚Erlernen der arabischen und hebräischen Sprache’ über ‚Akkulturation’, ‚Assimiliation und kultureller Transformation’ bis hin zur ‚religiösen Konversion’.

    Bevor ich im letzen Abschnitt meines Vortrags den Versuch eines Erkenntnistransfers zu Spanien zwischen Gestern und Heute unternehme, muß ich zunächst ein Warnschild errichten: Generell gilt es zu beachten, daß die Verstehenskategorien, mit denen wir heute operieren, nicht einfach auf vergangene Zustände übertragen werden können, die Deutung der anderen Zeitstellung also bisweilen schwieriger ist, als man dies zunächst meinte. Beispielsweise ist der für uns heute so zentrale Begriff ‚Toleranz’ im Mittelalter nicht mit der ‚Gewährung von Rechtsgleichheit ohne Diskriminierung’, sondern allenfalls mit dem ‚Verzicht auf Bekehrung oder Vertreibung’ gleichzusetzen.

    Zugleich möchte ich aber dem bereits vor einem halben Jahrhundert heftig diskutierten Einwand, die Geschichte der Iberischen Halbinsel sei ein Sonderfall der gesamteuropäischen Geschichte, weshalb sie für eine generelle Betrachtung der interkulturellen und -religiösen Phänomene unserer Gegenwart relativ ungeeignet sei, entgegentreten. Es ist zwar richtig, daß die Iberische Halbinsel bis zur Einigung der Teilkönigreiche gegen Ende des 15. Jahrhunderts eine Sonderrolle in Europa gespielt hat, weil es die einzige Großregion der lateinischen Christenheit war, die sich über Jahrhunderte hinweg in muslimischer Hand befand, in der über lange Zeit hinweg die christlichen westgotischen und romanischen Einwohner neben Juden und Muslimen in einer relativ ‚missionslosen’ Zeit nebeneinander lebten und die dem Islam bereits am Ende des Mittelalters wieder vollkommen entzogen war. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, daß die Iberische Halbinsel als relativ alter Bestandteil des Imperium Romanum Anteil am antiken Erbe hatte, immer als Teil Europas und der lateinischen Christenheit galt und ähnlich wie die Italische Halbinsel oder Gallien im Zuge der germanischen Völkerwanderung überformt worden ist.

    An den Anfang meiner nun folgenden Beobachtungen soll die Frage gestellt werden, ob die gerade in letzter Zeit wieder aus gegebenem Anlaß so viel gepriesene, bisweilen sogar idealisierte Konvivenz der drei monotheistischen Religionen im islamischen Teil der Iberischen Halbinsel (al-Andalus; M. R. Menocal) nicht ein moderner Geschichtsmythos ist, dessen Tragfähigkeit sich (trotz der Religionsgesetzgebung Spaniens von 1992) angesichts des bis heute nicht aufgegebenen Schulterschlusses Spaniens mit den USA im 2. Irak-Krieg und angesichts der bezeichnenden innerspanischen Reaktionen nach dem 11. März 2004 als äußerst brüchig erwiesen hat. Kann uns die Betrachtung der multikulturellen und -religiösen Geschichte der Iberischen Halbinsel also geeignete Bewältigungsstrategien für die eigene Gesellschaftssituation an die Hand geben? Ich denke, daß die Antwort durchaus ‚Ja’ lauten darf, wenn man den Mythos auf seine wirklich aussagekräftigen Bestandteile befragt:

    1. Seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert (1091) bzw. seit der Mitte des 12. Jahrhunderts (1147) erlebt die Iberische Halbinsel mit der Herrschaft der muslimischen Erneuerungsbewegung der berberischen Almoraviden-, dann Almohaden-Dynastie eine fundamentalistische Wende. Diese sich im Abstand von einem halben Jahrhundert einander ablösenden ‚muslimische Ritterbewegungen’, die ein Leben in Kloster-Kasernen führen und eine asketisch-fanatische Frömmigkeit mit soldatischem Kampfesmut verknüpfen, kommen auf die Halbinsel mit dem Ziel der Reinigung und Stärkung des dort bedrohlich erschlafften Islam. Ihre Anwesenheit führt zwar nach dem Zerfall des Kalifats von Córdoba zur Einigung der sich bekriegenden arabischen Kleinkönigreiche (Taifa-Reiche), dies aber zum Preis eines eher fundamentalistischen, religiös-politischen Regimes. Die Reconquista, nicht zuletzt getragen von den neuen iberischen geistlichen Ritterorden des 12. Jahrhunderts, die ihrerseits im Geiste des fundamentalistischen Kreuzzugsgedankens entstanden sind, ist eine scharfe christliche Antwort auf die hiermit verbundenen Abkehr vom relativ toleranten Islam der Kalifen von Córdoba und der Taifa-Könige und ihre Konsequenzen für die unter muslimischer Herrschaft lebenden Mozaraber (muslimische Zwangsbekehrungsversuche, Aufstände von Christen und Juden).

Offenkundig bedingen religiöse Fundamentalismen einander.

    2. Hinter den religiösen Fundamentalismen beider Seiten stehen der gemeinsame Wille zur Homogenisierung und gleichzeitigen Abgrenzung der Religionen in einem mit Skepsis und Mißtrauen beurteilten Konvivenzexperiment, auf der einen Seite die Rückbindung des iberischen Islam an den ‚wahren Islam’ nichtiberischer Muslime, auf der anderen Seite die Rückbindung der mozarabischen Kirche durch zumeist nichtiberische, vor allem französische Christen im Zuge der zunehmenden Vereinheitlichung oder ‚Römisierung’ der lateinischen Gesamtkirche. Kaum zufällig fällt der Beginn der Reconquista mit der Intensivierung der sog. ‚Gregorianischen Kirchenreform’ zusammen. Sichtbares Kennzeichen der ‚Römisierung’ der mozarabischen Kirche ist das auf dem Konzil von León 1090 ausgesprochene Verbot der gebräuchlichen westgotischen Minuskel in Büchern mit mozarabischer Liturgie, durch das in den bereits christlichen Teilen der Iberischen Halbinsel eine gregorianische Liturgiereform römischer Prägung durchgesetzt werden konnte.

Die Angst vor der Okzidentalisierung des Islams und der Orientalisierung des Christentums befördert Radikalisierungstendenzen in beiden Religionen.

    3. ‚Konvivenz’ ist sowohl vor wie nach der Verlagerung der kulturellen und religiösen Mehrheitsverhältnisse auf der Iberischen Halbinsel ein relativ gefährdete Größe, die zwischen ‚Duldung’, ‚Verfolgung’ und ‚Bekehrung’ bestehen muß. Unter der muslimischen Herrschaft sind die mozarabischen Christen trotz wirtschaftlichen Erfolges immer Schutzbefohlene und Bürger zweiter Klasse, die eine Grund- und Kopfsteuer leisten müssen, die ihre Religion nur privat ausüben dürfen, also auf jegliche missionarische Tätigkeit verzichten müssen. Hinsichtlich Kleidung, Sitten und Sprache sind sie einem merklichen Assimilierungsdruck ausgesetzt, dem nicht wenige durch Konversion zum Islam entgehen. Auch unter christlicher Herrschaft ergeht es den Muslimen nicht wesentlich besser. Insofern kann man weder von einem ausschließlich toleranten Islam noch von einem ausschließlich intoleranten Christentum reden. Die Konvivenz ist immer von einem Wechsel zwischen Privilegierung und Unterdrückung, zwischen Annäherung und Distanzierung geprägt. Minderheitengesetze verhindern eine echte und dauerhafte Ausbildung von Konvivenz.

Nur die Gleichheit der Religionen vor dem Gesetz und die dadurch garantierte Freiheit der Religionsausübung garantieren diese.

    4. Das Verhältnis der Perioden relativer Toleranz und Blüte (z. B. Córdoba im 10. Jahrhundert; Toledo im 12. und 13. Jahrhundert) und des Kampfes der Religionen (kaum der Kulturen) wird nicht von den beiden Monotheismen als Großsystemen bestimmt, sondern von Individuen und Eliten, welche die zeitweilige Deutungshoheit über das Selbstverständnis der eigenen Religion und die praktische Gestaltung des interreligiösen Zusammenlebens erlangen. Religiöse Bestimmung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens gefährdet den inneren wie äußeren Frieden. Bei Verschiebungen der Gewichte besteht die Gefahr der Rückführung oder gar Reduzierung des Lebens auf das Religiöse als letzter Ausfluchtmöglichkeit. Ein zusätzliches Gefährdungspotential liegt in der Asymmetrie der religiösen Verhältnisse, da entweder der Islam oder das Christentum die dominierende Religion gegenüber den jeweils geduldeten Religionen (einschließlich des Judentums) ist.

Die Konvivenz ist also immer dann bedroht, wenn von einer oder beiden Seiten ein absoluter Geltungsanspruch formuliert wird.

    5. Die Politik der zeitweiligen Toleranz der Christen während ihrer Expansion seit der Eroberung Toledos (1085), die bis ins 13. Jahrhundert reicht, endet im Augenblick der deutlichen militärischen Überlegenheit. Seit dieser Zeit ist ein Ansteigen der Intoleranz insbesondere im Strategiewechsel der christlichen Autoren (nicht nur) der Iberischen Halbinsel ablesbar.

Die Position der physischen Stärke trägt die Gefahr der intellektuellen, kulturellen und religiösen Aggression in sich.

Öffentlicher Vortrag, Frankfurt am Main, Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt-Georgen, 6. August 2004.
 

© by Dr. Matthias M. Tischler