Hugo von Sankt Viktor - Institut
für Quellenkunde des Mittelalters

Christlich-muslimischer Dialog in Spanien, 12.-15. Jahrhundert


"Bemerkungen zur Notwendigkeit der historischen Perspektive
für den christlich-muslimischen Dialog der Gegenwart"
Jegliche Beschäftigung mit Religion verortet sich durch unsere unabstreifbare Zeitbezogenheit in den Fluß des historischen Prozesses, weshalb es sinnvoll erscheint, zunächst eine Standortbestimmung zu unternehmen, bevor man sich auf ein Thema wie den interreligiösen Dialog und seine Ausformung in einer bestimmten Zeit- und Raumkonstellation einläßt. Ein Gegenwarts-, geschweige denn Zukunftsbezug ohne eine Rückbindung in die Vergangenheit ist ohnehin unmöglich, wenn nicht gar unmenschlich. Welches sollen daher die Prämissen für eine wissenschaftliche Herangehensweise an das genannte Thema sein?
 

1. Warum eine (Literatur-)Geschichte des christlich-muslimischen Dialogs oder Nichtdialogs?

    Bei der näheren Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex des interreligiösen Dialogs wird ein bislang kaum überbrücktes Spannungsverhältnis zwischen der intellektuellen Reflexion der gegenwärtigen Dialogsituation (Chr. Troll), der Praxis dieses Dialogverhältnisses in den sog. 'westlichen Gesellschaften' und einer dezidiert historischen Perspektive auf die Geschichte dieses Dialogs deutlich. Zum einen ist die Situation vom Finden des gemeinsamen kleinsten Nenners als einer ersten Basis für die voraussetzungsgleiche und gleichberechtigte Begegnung im Dialog geprägt. Zum anderen ist man sich einig, daß der Dialog aufgrund seines prozessualen Charakters ein Lernvorgang ist, das Schwierige und Verletzende, das Unausgesprochene und Verschwiegene gegenseitig zu benennen. Insofern ist es für das Gelingen des Dialogs der Gegenwart von größter Bedeutung, nicht nur um die gegenwärtig zentralen Inhalte der jeweils anderen Religion, sondern auch um ihre Entfaltung und um die methodische Prozessualität ihrer Vermittlung im Laufe der Religionsgeschichte zu wissen. Dies setzt eine (Literatur-)Geschichte von den hierfür einschlägigen Texten und den hieraus resultierenden Eigenarten dieser Begegnungsgeschichte voraus.
 

2. Die 'Alterität' des Mittelalters - Chancen und Gefahren für die Mediävistik im allgemeinen und für den gegenwärtigen Religionsdialog im besonderen

    Im allgemeinen hat man den Eindruck, daß mit wachsender zeitlicher Distanz des mit geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden bearbeiteten Gegenstands die Operationabilisierbarkeit des hierdurch gewonnenen historischen Wissens zunehmend in Frage gestellt wird. Ist aber angesichts der großen Aufgabe aller geschichtlich arbeitenden Disziplinen, historisches Wissen für unsere Fragen der Gegenwart bereitzustellen, diese aus zunehmend ferneren Zeitstellungen eruierte historische Erkenntnis tatsächlich von immer geringerer Relevanz? Erfahrungsgemäß ist die Andersheit (sog. 'Alterität') des Mittelalters (Freedman - Spiegel) freilich geringer zu veranschlagen als manche Pessimisten unter den Mediävisten befürchten und zu ihrem Erstaunen manche Modernisten (oder gar 'Postmodernisten') zu hoffen meinten. Denkt man an jene Jahrhunderte alten Traditionen, "in die Tiefen der kollektiven Psyche eingegrabenen Gruppenidentitäten, die noch die Gegenwart in Krieg und Terror treiben" (Fried, S. 20), bedenkt man ferner, daß "alle europäischen Nationen, alle religiösen Fundamentalismen ... mit ihren Traditionen, mit ihrer Überzeugungsmacht im Mittelalter oder noch tiefer" wurzeln (ebenda, S. 21), dann ist es tatsächlich wohl eher so, daß es kein geeigneteres Zeitalter der europäischen Geschichte als das Mittelalter gibt, um in Bezugsetzung zu unserer Gegenwart die Verfangenheit des alles sie kennzeichnenden "Modernen" in seiner vorgeblichen Modernität besser aufzuzeigen. 'Das Mittelalter' bleibt eine Bezugsgröße und Bemessungsgrundlage für uns heute (Oexle, S. 310), da wir ohne dieses unser Heute gar nicht denken können. Wie anders könnte man etwa die "Langzeitwirkung mentaler Phänomene" (Hartmann, S. 219) abschätzen?

    Die Beschäftigung mit Fremdheit ist immerhin zutiefst beunruhigend, da sie zur Auseinandersetzung mit dem Vertrauten oder gar Liebgewonnenen herausfordert. Vielleicht liegt in diesem Relativisierungspotential weiter ausgreifender geschichtlicher Perspektivität einer der Hauptgründe für den mehr oder weniger bewußten (oder auch verzweifelten?) Versuch der Eindämmung hinterfragender Positionen innerhalb vermeintlich letztgültig gewonnener gesellschaftlicher, politischer und kirchlicher Strukturen. Dabei wird häufig übersehen, daß allein die historische Perspektive, die unweigerlich Rezeptionsprozesse auslöst, selbst Voraussetzung für die zugrundeliegenden Entwicklungen gewesen ist und insbesondere sie eine systemerhaltende kulturelle Phantasie und Kreativität des Einzelnen in der Gemeinschaft anregen kann. Es soll hier keinem akademischen 'Neohistorizismus' das Wort geredet werden: ein Zuviel an "Historie" kann durchaus "dem Leben feindlich und gefährlich (...) sein" (Nietzsche, S. 44), weil die Gefahr der Überheblichkeit gegenüber jeder vergangenen Zeit besteht, so wie es auch die Gefahr eines Zuwenig an "Historie", die Bedrohung durch eine völlige Relativierung einer allein auf die Zukunft orientierten Gegenwart, eine Art "Entwurzelung der Zukunft" gibt (ebenda, S. 65). Es geht also um ein angemessenes Austarieren zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig an historischer Perspektive mitten im Leben. Wenn aber Phantasie tatsächlich Erfahrung ist, dann muß dem historischen Arbeiten angesichts des eingeforderten politischen, gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen Kreativitäts- und Modernitätsschubs in unseren reformbedürftigen westlichen Gemeinwesen, angesichts jenes dringend notwendigen Rucks durch die Gesellschaften eine bedeutendere Rolle als bisher zukommen. Dieses Arbeiten kann offenkundig gewordene Gestaltungsdefizite abbauen, indem es das Wissen um verschiedenste Handlungsmöglichkeiten eruiert und zur Verfügung stellt: "Geschichte reflektiert die in Auseinandersetzung mit der Welt, der Umwelt, mit der eigenen Gesellschaft, den anderen und den Fremden gesammelte Erfahrung" (Fried, S. 29). Sie ist eine Form von gegenwartsbezogener Selbsterinnerung und Selbstreflexion, ringt um Orientierung für eine bessere Zukunft und ist damit Kennzeichen von Humanität im umfassendsten Sinne.

    Natürlich kann es für die Beschäftigung mit den oft befremdenden mittelalterlichen Texten nicht nur ästhetizistische Gründe ("intellektuelle Faszination, emotionale Faszination": Hartmann, S. 226-233) geben, wenn etwa aus einer gewissen literaturwissenschaftlichen Sichtweise der Entwicklungsgang des hermeneutischen Verstehensprozesses mit den Phasen 'Empfinden ästhetischen Vergnügens', 'Wahrnehmung befremdender Andersheit' und 'Entdeckung des Modellcharakters mittelalterlicher Texte' umschrieben wird. Dies können nicht ausschließliche Gründe für das Forschungs- und Erkenntnisinteresse an der Literatur des Mittelalters in einem weitverstandenen Sinne sein. Sicher ist es wichtig, "probehalber eine ungewohnte Einstellung einzunehmen und so den eigenen Horizont der Erfahrungen zu erweitern" (Jauss, S. 13), sicher wichtig auch "der reflektierte äesthetische Genuß, der ein Erkennen des Kontrastes zu moderner Erfahrung voraussetzt" bzw. die "Befremdung durch Alterität" (ebenda, S. 14), aber es darf eben nicht allein Ziel unserer Beschäftigung mit mittelalterlichen Texten sein, "die Modernität mittelalterlicher Literatur in ihrer Alterität zu entdecken" (ebenda, S. 25), weil wir die ehrliche Feststellung des Überkommenen, des Hinfälligen und des für unsere Zeit Irrelevanten ebenso treffen müssen.

    Mediävistische Forschung in Europa und Amerika, die ihre Relevanz auch für die heutigen modernen westlichen Gesellschaften deutlich machen und ihre Position festigen will, darf sich dabei nicht mehr nur auf ihre klassischen Themen in Lehre und Forschung beschränken, sondern muß auch moderne, zeitgemäße Themen, Fragestellungen und Methoden zulassen und ausprobieren (Oexle, S. 364). Sie sollte sich dabei ernsthaft auf die gegenwärtig geführten Wissenschafts- und Gesellschaftdebatten einlassen (was sie im übrigen durchaus tut), aber sich gleichzeitig vor inadäquaten, modernistischen Deutungsmustern und Wertungen hüten (ebenda, S. 362). Dies setzt ein Methodenbewußtsein voraus (das leider nicht immer in zufriedenstellendem Maße vorhanden ist), denn "die Elemente, die Bilder und Begriffe, die dieses 'kulturelle Gedächtnis' konstituieren, formen, differenzieren", müssen ja "einer steten Analyse und Prüfung unterzogen werden (...). Wissenschaftsgeschichtliche Analyse gehört deshalb zum Grundbestand Historischer Kulturwissenschaft" (ebenda). Die Spezifität mediävistischer Forschung wird es dabei sein, die zeittypischen ('mittelalterlichen') Phänomene in ihrer Andersartigkeit ebenso zu benennen, wie sie die bis in ihre Zeitstellung zurückreichenden Entwicklungspotentiale und -linien, mithin also die Modernität des Mittelalters beschreiben muß. Das Bewußtsein für eine solche Forschungsposition in unseren Gesellschaften neu zu formulieren, bedarf frischer, umfassender Anstrengungen, die insbesondere von der nächsten Generation von Wissenschaftlern getragen werden muß.
 

3. Mediävistik - Mut zum Anderssein

Geschichte zu betreiben ist der Mut zum möglicherweise Unzeitgemäßen, da man gegen die Zeit arbeitet und damit auf die Zeit und damit vielleicht auf eine künftige Zeit hinarbeitet. Die Beschäftigung mit dem Mittelalter wiederum ist eine Auseinandersetzung mit den verschiedensten Denk- und Handlungsmustern eines vornationalen Weltverständnisses, aber auch mit den Vorformen heutiger religiöser Fundamentalismen gleich welcher Herkunft. Dieser Arbeit kommt eine wichtige Brückenbaufunktion, eine Vermittlerrolle zwischen dem vermeintlich überholten Gestern und dem neugierigen Heute zu. Hierin liegt eine große Chance zur Beförderung des geistigen und religiösen Diskurses der Gegenwart, da im kollektiven Gedächtnis der aktuellen Gesellschaften Konzepte für eine transnationale und transreligiöse Welt bei gleichzeitiger Wahrung der Eigenarten der Einzelgesellschaften und -religionen verborgen liegen, deren Wiederentdeckung den Umgang mit radikalen gesellschaftlichen und religiösen Kräften bereits diesseits vom Einsatz militärischer Mittel ermöglichen können und zugleich Kontrollinstrumentarien für unseren modernen Denkstil, seine Methoden und Ziele bereitstellen, indem sie im Wissen um die Unmöglichkeiten des früheren Denkens und Handelns die Möglichkeiten und Grenzen unseres heutigen Agierens aufzuzeigen vermögen. Hier liegt gleichsam eine 'latente Aktualität' im Mittelalter begründet. Im Unterschied hierzu ist die 'ausstehende Aktualität' des Mittelalters jene, die in den unausgeschöpften, weil auf dem Wege der Weitergabe von Wissen vergessenen Deutungspotentialen dieser Zeitepoche besteht, welche uns aus Irrwegen des Denkens und Handelns herausführen können. Eine dritte Form von Aktualität ergibt sich aus den beiden zuvor genannten, insofern die Erkenntnis einer bis ins Mittelalter zurückreichenden Kontinuität die Scheidung des Eigenen und des bloß Tradierten ermöglicht (de Libera, S. 56).
    Nimmt man die erwähnten Grenzen unseres Handelns in der Gegenwart näher in den Blick, so wird man einer Reihe von Hinderungsgründen für die Begegnung mit den 'anderen' Religionen gewahr, die ihre Wurzeln mindestens im Mittelalter haben:

- Die eurozentrische Weltsicht, die politisch relevant wurde und auf die Gestaltung der Welt bis heute massiv einwirkt, reicht mindestens bis in das Zeitalter der internationalen Kreuzzüge und der spanischen Reconquista seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert zurück. Europäische Selbstverliebtheit, Propaganda und gewaltsame Durchsetzung europäisch-amerikanischer Wertvorstellungen (der sog. 'westlichen Welt') sind Entwicklungen dieser Anschauung.

- Unser kulturelles und religiöses Selbstverständnis hat sich in der Auseinandersetzung mit anderen Großgemeinschaften herausgebildet, deren Geschichte noch deutlich älter ist.

- Der Entwicklungsgang der christlichen Gesellschaften in Europa, Amerika und den anderen Kontinenten seit dem Ausgang des Mittelalters hat ein umfassendes und komplexes System von Werten sowie Individualitäts- und Gesellschaftsrechten (Menschenwürde, Grund- und Menschenrechte; Individualität, Freiheit und Selbstbestimmung; Demokratie und Souveränität) ausgebildet. Eine unmittelbare und umfassende Konfrontation anderer Gesellschaftsordnungen mit diesem Werte- und Rechtssystem muß notwendigerweise Spannungen hervorrufen. Deshalb tut eine "Entzerrung der zeitlich wie intellektuell viel zu dichtgedrängten Lern- und Akkulturationszumutungen" (Fried, S. 25) durch historisches Verstehen aus einer prononciert mediävistischen Perspektive not, weil diese leichter begreif- und handhabbare Gesellschaftsmodelle zur Diskussion stellen kann.

    Freilich dürfen auch nicht die Gefahren verschwiegen werden, welche die mediävistische Forschungsperspektive mit sich bringen kann. Möglicherweise stellt sich im Laufe des Arbeitens heraus, daß die behandelten Problemfelder eine zu große zeitliche wie inhaltliche Distanz zum interessierten Heute aufweisen. Vielleicht aber erweisen sich auch bestimmte, gegenwärtig favorisierte Themen, Fragestellungen oder Forschungsmethoden als ungeeignet oder gar irrelevant. Und vielleicht erweist sich schließlich das Spannungsverhältnis zwischen gegenwartsbezogener Nutzbarmachung historischen Wissens und zukunftsorientierter, zweckfreier historischer Forschung als zu groß. Doch gerade in diesen Einsichten kann der eigentliche Erkenntnisfortschritt bestehen: Es gibt ebenso ein Anrecht auf intellektuellen Freiraum, in dem Wissenschaft zweckfrei betrieben werden muß, wie es eine Falsifizierung des heuristischen Handwerkzeugs einer allgemein textorientierten Forschung gibt.
 

4. Die christliche Position in der säkularisierten westlichen Gesellschaft und die Dialogfähigkeit der christlichen Kirchen

Wir nehmen unsere heutige Welt in der global vernetzten, in direkte Konfrontation mit den weltumspannenden 'anderen' Religions- und Wertesystemen gebrachten Informationsgesellschaft nicht nur als das viel beschworene 'globale Dorf' wahr; vielmehr erleben die Menschen der sog. 'westlichen Welt' auch ihre eigenen kleinen Lebenskosmen als ein Spiegelbild des globalen Kosmos. Jedem wachen Geist wird daher in Verantwortung zur gemeinsamen Gestaltung der Gesellschaften, in Verantwortung vor dem miteinander geglaubten Gott und in Achtung der Menschenwürde die Unumgänglichkeit des interreligiösen Dialogs einsichtig werden, der sich nicht allein in der Erörterung religiöser Grundfragen erschöpfen muß.

    Richten wir den Blick auf die uns vertraute europäische Situation, so müssen wir festhalten, daß die Minderheitensituation der Muslimengemeinschaft in den europäischen Gesellschaften ein doppeltes Ärgernis für diese darstellt. Nicht nur handelt es sich um ein schwerwiegendes theologisches und psychologisches Problem, daß der Islam, der sich aus seiner Geschichte heraus als Religion des Sieges und der Herrschaft Gottes versteht, eine Minderheit in einem Europa christlicher Wurzeln, insbesondere in einer einstmals nahezu völlig beherrschten europäischen Teilregion (Iberische Halbinsel) ist, sondern diese Minderheit sich einer nurmehr minderheitlich vom Christentum getragenen Gesellschaftsordnung fügen muß. Es dürfte klar sein, daß die in unserer eigenen leidvollen Geschichte erlebte doppelte Gefahr der Ghettoisierung einer religiösen und kulturellen, sich ausgegrenzt fühlenden Minderheit nicht nur die Dialogbereitschaft seitens der Muslime gefährden oder gar verhindern kann, sondern auch auf Seiten der Nichtmuslime der gefährlichen vergröbernden Vereinfachung, dem Unwissen oder gar dem Aufbau von Vorurteilen und Feindbildern ('Bedrohung', 'insgeheime Islamisierung Europas') Vorschub leisten kann. Mangelnde Bereitschaft zum Dialog oder überhaupt ungenügende Sachkenntnis nicht allein bei den politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Entscheidungsträgern, sondern überhaupt bei allen Mitgliedern der Gesellschaften könnte in der westlichen, 'säkularisierten' Wertegemeinschaft fatale Folgen zeitigen.

    Keineswegs dürfen die traditionellen Hinderungsgründe für den heutigen Dialog in unseren Gesellschaften vergessen werden. Geht man von der aus geschichtlicher Einsicht erwachsenen Grundvoraussetzung der intellektuellen Gleichwertigkeit der interreligiösen Dialogpartner aus, so dürfen in der Tat die folgenden Schwierigkeiten in Deutschland nicht geleugnet werden: Es sind bislang eindeutig zu wenige human- und geisteswissenschaftlich sowie theologisch gebildete Muslime in den Moscheevereinen als ernstzunehmende Dialogpartner zu finden. Auch wird man nicht ignorieren können, daß die Neugierde seitens der Muslime auf nichtmuslimische Religionen bislang kaum entwickelt ist und durch die muslimische Minderheitensituation eher die Abwehrhaltung diesen gegenüber verstärkt wird. Zudem stammt in Deutschland der allergrößte Teil der eingewanderten Muslime aus dem städtischen und ländlichen Arbeitermilieu der Türkei, was den Dialog weiter erschwert.

    Es tun sich aber auch Chancen auf, wenn man den lange Zeit zu eng auf das interreligiöse Gespräch reduzierten Dialogbegriff in verschiedene Formen der Begegnung auffächert. Wenn man sich der Tatsache bewußt ist, daß in Ländern, in denen der Islam, arabische Kultur und Sprache keine Einheit bilden, sondern vorislamische Entwicklungen christlicher oder jüdischer Prägung existierten und bis heute wirken, eine größere Dialogbereitschaft festzustellen ist, wenn man ferner festhalten kann, daß in solchen Ländern die Initiative zu einem möglichst breitgefächerten Dialog nicht mehr nur ausschließlich von Christen ausgeht, ja daß der Dialog nicht nur auf 'hohem theologischen Niveau mit ernsthaften Gesprächspartnern' stattfinden muß, dann sind bereits wichtige Voraussetzungen für die Auffächerung des christlich-muslimischen Dialog gegeben. Unbenommen sind hiervon natürlich der voraussetzungslose Wille, die 'andere Seite' überhaupt verstehen zu wollen, der ohne Bereitschaft, etwas über diese wissen zu wollen, also ohne eine bessere Kenntnis als bislang durch intensives inhaltliches und methodisches Studium der anderen Religion und Kultur in Vergangenheit und Gegenwart, durch die Anerkenntnis der Differenziertheit ihrer Erscheinungsformen zu erwerben, undenkbar ist. Zudem muß die Bereitschaft, die eigene reflektierte Position einzubringen, gegeben sein.

    Auf diesem gemeinsam verantworteten Fundament läßt sich ein von gegenseitigem Respekt und fruchtbarer Beziehung geprägter mehrteiliger Dialog entwickeln, der in Abstufung kultureller und religiöser Erfahrungshorizonte bestehen könnte

- in der Begegnung bei humanitärer Hilfe ('humanitärer Dialog')

- im umfassend gelebten Miteinander von Christen und Muslimen in der nurmehr mittelbar religiös oder christlich geprägten westlichen Zivilgesellschaft Europas und Nordamerikas und zwar in den Familien, an der Arbeitsstelle und bei sozialen und sonstigen Aktivitäten ('sozialer Dialog')

- in engeren inoffiziellen wie offiziellen Gesprächen zwischen Vertretern der Glaubensgemeinschaften und Religionsvertretern ('interreligiöser bzw. theologisch-philosophischer Dialog') und

- im konkreten Austausch religiöser Erfahrung im reflexiven und religionspraktischen Miteinander ('religiöser Dialog').

    Diese Auffächerung befreit von der Verengung auf den allein theologisch-philosophischen Dialog, der bei allen Gemeinsamkeiten, wie den Glauben an den alleinigen Gott als Schöpfer, Allmächtiger, Richter und Erbarmer, an die Rolle der Propheten, an die Erwartung des Endgerichts (Gericht, Belohnung und Bestrafung), an die Verehrung Jesu und an den gemeinsamen religiösen Humanismus (Übereinstimmungen im Menschenbild), auch die Differenzen hinsichtlich Trinität, Inkarnation und damit verbundener Beziehungshaftigkeit von Gott und den Menschen christlicherseits und hinsichtlich der Bewertung der Rolle des Korans und Mohammeds muslimischerseits benennen dürfen muß.

    Gleichwohl eröffnen sich in einem weiteren Verständnisrahmen dem interreligiösen Dialog - gerade in seinem Bewußtsein aus der historischen Rückschau auf die Verschiedenheit, eine gemeinsame Berufung sichtbar werden zu lassen - Chancen für beide Seiten, die nicht ohne Wirkung auf Muslime, Christen und ihren gemeinsam erfahrenen dritten Partner, den 'säkularisierten Menschen der Gegenwartsgesellschaften' bleiben werden. Hier erlangen die christlichen Kirchen eine mehrfache neue Dialogfähigkeit mit sich selbst, mit den Muslimen und mit dem genannten gemeinsamen dritten Partner innerhalb ihrer Gesellschaften.

    Vielleicht ist die folgende Skizze einer wissenschaftlich fundierten Analyse der verschiedenen Strategien der Herangehensweise, des Verständnisses und der Motive des Verstehens des Islam eine typisch europäische oder westliche Form der individuellen wie kollektiven Standortbestimmung und Selbstreflexion. Gleichwohl sollten wir uns dieser weder selbst entziehen, noch deren Chancen gerade im Gesprächsangebot an die Muslime noch an die erwähnten nichtchristlichen und nichtmuslimischen Partner unerwähnt lassen, denn gerade hier wird die Relevanz der Perspektive auf die reale und auf die scheinbare Alterität des bereits vollzogenen interreligiösen Dialogs besonders deutlich.

Herausforderungen für die Christen

Es ist nicht zu leugnen, daß im Kontext des skizzierten vierfachen Dialogs zwischen Christen und Muslimen, das 'westliche Kulturchristentum' durch die muslimische Position herausgefordert wird (Troll, Der Islam fordert die Christen heraus): Vitalität, Familiensinn, Mut zur Zukunft und zu religiös-moralischen Prinzipien fordern die Christen der westlichen Gesellschaften zu Bekenntnis und Leben des spezifisch Christlichen ganz neu heraus.

    Da der Islam kein Lehramt kennt, wird die Suche nach gleichberechtigten Gesprächspartnern im Dialog zu einer Chance für die Christen, konfessionsübergreifend kompetente christliche Gesprächsführer, die losgelöst von lehramtlichen oder vergleichbaren Amtsfunktionen sind, zu finden, um das Gespräch auf einer 'neutralen', wissenschaftlichen Ebene' führen können. Insofern sind alle theologisch, philosophisch und historisch gebildeten sowie interreligiös engagierten Christen zur Aufnahme des interreligiösen Dialogs berufen.

Herausforderungen für die Muslime

Da im Gegensatz zu dem seit Anbeginn in Auseinandersetzung mit immer neuen philosophischen und theologischen Strömungen stehenden Christentum im Islam ein historisch zu begründendes Ausbleiben an Selbstreflexivität und Bereitschaft zur Selbstrelativierung festzustellen ist, die bis heute in weiten muslimischen Kreisen als ein Zeichen von Schwäche, nicht aber von Reife und Einsicht gedeutet werden, hat sich im Islam eine systematische Theologie der Religionen, die in objektiver und emphatischer Weise die wesentlichen und unterscheidenden Inhalte des Christentums aus muslimischer Sicht darzustellen, geschweige denn in eine schlüssige islamisch-theologische Sicht einzubauen ebensowenig entwickelt wie eine durchgehende Tradition der Religionskritik oder gar Fundamentalkritik der eigenen Religion. Dies erschwert zwar den theologisch-philosophischen Dialog, verunmöglicht aber nicht die bereits genannten Formen des 'humanitären' und 'sozialen Dialogs'.

    Gleichwohl kann gerade der Blick zurück auf den bereits geleisteten Dialog befreiende Wirkung erzielen und für beiden Seiten deutlich machen, daß Religionen oder gar Monotheismen in der Vergangenheit nicht nur Ursache von interkulturellen und -gesellschaftlichen Konflikten sein konnten (weshalb man heute 'humanistisches, religionsfreies Denken und Handeln' anstreben solle), sondern gerade in der Gegenwart einen unverzichtbaren Friedensbeitrag leisten können, indem sie sich dem Aufbau einer gemeinsamen religiösen und gesellschaftlichen Basis und damit einer neuen Form von richtig verstandener Konvivenz widmen. Nur wenn auf beiden Seiten die Notwendigkeit erkannt wird, durch systematische und spezialisierte Studien auf den Gebieten der Geschichte, Soziologie, Politik und der religiösen Wissenschaften die 'andere Seite' adäquat zu verstehen (Troll, Die christlich-muslimischen Beziehungen), kann diese Friedensaufgabe gelingen. Dabei bestünde gerade in der Beschäftigung mit der Alterität der interreligiösen Begegnung die Chance, den noch wenig ausgeprägten Mut zur vertieften Auseinandersetzung mit dem Christentum zu entwickeln, da diese Arbeit aufzeigen kann, daß es in früheren Zeiten Gesellschaften gegeben hat, in denen selbst unter undemokratischen Bedingungen der interreligiöse Dialog praktiziert wurde und daß es inmitten des 'verminten Terrains' der physischen Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen ein Alternativkonzept zum gewaltsamen Konflikt gab. Ferner ließe sich hieraus lernen, daß sich an dieser interreligiösen Gesprächssituation auf nahezu ausschließlich hohem intellektuellen Niveau noch nichts Wesentliches geändert hat, weshalb die bereits genannte Auffächerung des Dialogs umso dringender geboten erscheint. Desweiteren könnte deutlich werden, daß die historische Besinnung der christlichen Seite auf die eigenen interreligiösen Wurzeln ein Pendant im Selbstverständnis der religiösen Rückbezüglichkeit des Islam hat, daß ferner das 'Gewicht der Vergangenheit' nicht einfach dadurch abgeschüttelt werden kann, indem man es abstreift (was ohnehin nicht geht), sondern indem man gemeinsam diese Lasten abzubauen lernt, und daß schließlich der Dialog ein hervorragendes Antidotum gegen die beiderseits bestehende Gefährdung durch areligiöse Politik und unpolitische Religionsausübung ist, da hierdurch jeglicher politisierte religiöse, aber auch religiös verbrämte politische Extremismus im Keim erstickt werden könnte.

    Insofern besteht die Dialogfähigkeit der christlichen Seite innerhalb der 'säkularisierten westlichen Gesellschaften' in einer dreifachen 'Übersetzer- und Dolmetscherfunktion', indem sie mittels des interreligiösen Dialogs mit den Muslimen eine überkonfessionelle Brücke zwischen den christlichen Kirchen baut, dann eine Brücke zur Gemeinschaft der Muslimen schlägt, aber zugleich auch zwischen sich, den Muslimen und den säkularisierten und materialistischen, zweifelnden und agnostischen oder gar atheistischen Menschen der einen Gemeinschaft zu vermitteln versteht.
 

Literatur:

Paul Freedmann - Gabrielle M. Spiegel: Medievalisms old and new. The rediscovery of alterity in North American medieval studies, American Historical Review 103 (1998) S. 677-704.

Johannes Fried: Die Aktualität des Mittelalters. Gegen die Überheblichkeit unserer Wissensgesellschaft, Ostfildern 32003.

Hans-Werner Goetz: Einführung. Die Aktualität des Mittelalters und die 'Modernität' der Mediävistik, in: Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung (MittelalterStudien 1), hg. von H.-W. Goetz - J. Jarnut, München 2003, S. 11-18.

-: Die Gegenwart des Mittelalters und die Aktualität der Mittelalterforschung, in: Die Aktualität des Mittelalters (Herausforderungen. Historisch-politische Analysen 10), hg. von H.-W. Goetz, Bochum 2000, S. 7-23.

Sieglinde Hartmann: Vom Mittelalter zum dritten Jahrtausend: Brauchen wir das Mittelalter für unsere Zukunft?, Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 13 (2001-2002) S. 219-238.

Hans Robert Jauss: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur, in: ders.: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956-1976, München 1977, S. 9-47 [wieder abgedruckt in: Zum mittelalterlichen Literaturbegriff (Wege der Forschung 557), hg. von B. Haupt, Darmstadt 1985, S. 312-373], hier vor allem S. 9-26.

Alain de Libera: Denken im Mittelalter, München 2003, S. 56-59.

Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Reclams Universal-Bibliothek 7134), Stuttgart 2003.

Otto Gerhard Oexle: Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte, in: Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Kongreßakten des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995, hg. von P. Segl, Sigmaringen 1997, S. 307-364.

Christian W. Troll: Christian-Muslim relations in Germany. A critical survey, Islamochristiana 29 (2003) 165-202 (elektronische Ressource).

-: Christlich-islamischer Dialog. Zwischen Mission und Ökumene (elektronische Ressource).

-: Die christlich muslimischen Beziehungen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend: Probleme, Herausforderungen, Chancen (elektronische Ressource).

-: Interview der Islamischen Zeitung mit Prof. Dr. Christian Troll SJ, in: Islamische Zeitung (Berlin) Nr. 69 (4. April 2003) (elektronische Ressource).

-: Islamdialog: Ausverkauf des Christlichen? Anmerkungen zum Buch von Hans-Peter Raddatz, Stimmen der Zeit 220 (2002) S. 103-116 (elektronische Ressource).

-: Der Islam fordert die Christen heraus, in: Die Tagespost (Würzburg) Nr. 109 (10. September 2002), 55. Jahrgang, S. 6 (elektronische Ressource).

-: Der Islam. Herausforderung und Chance der deutschen Kirche (elektronische Ressource).

-: "Keine Alternative zum Dialog". Ein Gespräch mit dem Islamexperten Christian W. Troll, Herderkorrespondenz 56 (2002) S. 16-22 (elektronische Ressource).

-: Plurality of religion - plurality in religion (Christianity and Islam) (elektronische Ressource).

-: "Prüfet alles!" Der Dienst der Unterscheidung als unabdingbares Element dialogischer Beziehungen von Christen und Muslimen, in: Herausforderung Islam. Anfragen an das christliche Selbstverständnis, hg. von H. Schmid - A. Renz - J. Sperber, Stuttgart 2003, S. 69-82 (elektronische Ressource).

-: Witnessing to witnesses: The mission of Christians and Muslims (elektronische Ressource).

Frankfurt am Main, 20. Juli 2004 (die memoriae natalicii b. Francisci Petrarcae 1304-2004)

© by Dr. Matthias M. Tischler