Die Bibel der Abtei Sankt Viktor
Die Bibel ist der entscheidende Text der abendländischen Geistesgeschichte, nicht nur im Bereich der Theologie. Er
war und ist ebenso zentral für die Philosophen, für die mittellateinische und alle neusprachlichen Literaturen,
für die Kunstgeschichte und für die Geschichte Europas überhaupt. Erst seit Gutenberg begann der Bibeltext in
gedruckter, d.h. in normierter Form Verbreitung zu finden. Bis ins 16. Jh. hinein waren jedoch im Westen stets nur
verschiedene Versionen der Hieronymus-Übersetzung im Umlauf. Aufgrund älterer Vorarbeiten ist seit längerem
schon die Bedeutung der Viktorinerexegese und der Viktorinerbibel für die mittelalterliche Geistesgeschichte bekannt.
Seit etwa 15 Jahren wurden neue Arbeiten zur intellektuellen Produktion der Pariser Abtei Sankt Viktor und zu deren
erhaltenem Handschriftenbestand vorgelegt. Deshalb hat sich heute als Desiderat herauskristallisiert, die Bibeln dieser
Reform-Abtei zu untersuchen. Durch die Erhebung der viktorinischen Bibeltexte sowie begleitender Studien zu Kodikologie und
Paläographie, Bibliotheksgeschichte und Illustrationen dieser Handschriften soll die zentrale Bedeutung der
Viktoriner-Bibel für die weitere geistige Entwicklung der Universität Paris im Mittelalter untersucht werden.
Unmittelbar erwächst dieses Projekt auch aus der laufenden Edition von Hugos Kommentar zum
Octateuch.
Die Bibelhandschriften der Abtei Sankt Viktor und der von ihnen transportierte Text sind bislang nicht
Gegenstand monographischer Behandlung gewesen. Hin und wieder trifft man in der Literatur auf Bemerkungen über die
Glossa ordinaria, die sich heute in der Bibliothèque Mazarine befindet (cod. 131-144). Es gibt außerdem
frühe Arbeiten über die viktorinische Handschriftenproduktion, insbesonders über die Frage identifizierbarer
Schreiberhände aus dem Scriptorium der Abtei. Erst kürzlich ist darüber hinaus eine ausführliche Studie
über die viktorinische Bibelillustration im 12. Jahrhundert entstanden.
Sie belegt anhand kodikologischer und kunstgeschichtlicher Analysen die zentrale Bedeutung des Viktoriner-Skriptoriums
für die Entwicklung der glossierten Bibeln im Frühmittelalter und stellt außerdem die Verbreitung der Codices
aus Sankt Viktor im mittelalterlichen Deutschland in ein neues Licht.
Insgesamt wissen wir jedoch noch zu wenig über die Pariser Handschriftenproduktion im 12. Jahrhundert
und speziell über die Bedeutung der Viktoriner - ihres Bibeltextes, ihrer biblischen Textkritik, ihrer Glossae, ihrer
Exegese - in diesem Kontext. Darüber hinaus gibt die zusammenfassende Bemerkung M.T. Gibsons immer noch den derzeitigen
Kenntnisstand in bezug auf den viktorinischen Beitrag zur Entstehung der Glossa ordinaria wieder: „Master Hugh is my
candidate for setting in order the
definitive version of the Gloss, and the community and library of St. Victor the milieu in which it was first established as
a standard work of reference.“
Ähnlich wie bis vor kurzem für die Viktoriner-Liturgie, so besteht
immer noch eine vollständige Wissenslücke hinsichtlich des Textbestandes der Bibelhandschriften. Die Beuroner
kritische Ausgabe der vetus latina berücksichtigt lediglich Textzeugen aus der Zeit bis zum 8. Jahrhundert. Die
kritische Vulgata-Ausgabe des Alten Testamentes durch die Benediktiner von San Girolamo/Roma verweist auf die
hochmittelalterliche Texttradition, indem sie die Pariser Bibel des 13. Jahrhunderts sowie die entsprechenden
Bibelkorrektorien im historischen Apparat belegt (unter der Sigle Omega). Die Weiterentwicklung vom karolingischen Bibeltext
zur universitären Bibel des 13. Jahrhunderts, auf dem Weg über die textlichen und textkritischen
Anstrengungen des 12. Jahrhunderts, ist also bislang weder dokumentiert noch einschlägig untersucht worden.
Es werden Aufschlüsse über die Geschichte der Bibliothek von Sankt Viktor erwartet, über den
Rezeptionsprozeß des lateinischen Mittelalters zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert fokussiert auf einen Mikrokosmos:
die Stadt Paris, die Abtei Sankt Viktor, die Universität, das Umland.
(a) Woher stammen diese Bibel-Handschriften?
(b) Welche dieser Handschriften stammen demnach aus dem eigenen Skriptorium?
(c) Welche weiteren Handschriften wurden, beispielsweise aufgrund von Bestellung, nach außen gegeben?
(d) Angezielt wird ebenfalls, das Verhältnis zwischen den Schrifttexten der Liturgie und denen der Bibeln und
Glossae in der Abtei Sankt Viktor eruieren zu können. Besteht zwischen beiden Textsorten ein reziprokes
Rezeptionsverhältnis?
Projektlaufzeit: 2001-2003
Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft
Projektleiter: Prof. Dr. Rainer Berndt
Bearbeiter: Dr. Matthias M. Tischler
Abschlußpublikation siehe Corpus Victorinum. Instrumenta Volumen
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